„Für viele ist es ein Maß für Wichtigkeit, keine Zeit zu haben“
Der Psychologe Marc Wittmann erklärt im Interview, warum die Zeit anscheinend immer schneller vergeht, je älter wir werden
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Die Diskussion über die Beschleunigung unseres Alltags reißt nicht ab. Was bringt all die Beschäftigung mit dem Thema? Gibt es Abhilfe? Oder ist die Klage über Zeitmangel längst ein Ritual des modernen Menschen? Ein Gespräch mit dem Freiburger Zeitpsychologen Marc Wittmann.
Herr Wittmann, auf die Anfrage für dieses Interview haben Sie schnell reagiert. Und zwar mit gleich vier Terminvorschlägen. Das ist ziemlich ungewöhnlich. Haben Sie viel Zeit oder gehen Sie besser mit ihr um als andere?
Ich kann ziemlich selbstbestimmt arbeiten – da wäre es ja fast peinlich, wenn ich sagen würde: Tut mir leid, ich habe überhaupt keine Zeit. Morgen fliege ich für drei Tage weg, dann habe ich natürlich keine Zeit für ein Interview. Aber wenn ich hier in Freiburg bin, muss diese halbe Stunde zwischendurch schon drin sein.
Welche Frage ist Ihnen als Zeitforscher in den vergangenen Jahren am häufigsten gestellt worden?
Warum die Zeit immer schneller vergeht, je älter man wird. Aber weil ich darüber besonders intensiv forsche, beantworte ich sie auch gerne immer wieder.
Dann sagen Sie mal ...
Es liegt daran, dass wir, je älter wir werden, immer unachtsamer mit Momenten und Erlebnissen umgehen – mit steigendem Lebensalter haben wir Vieles eben schon oft erlebt. Die Besonderheit, die Neuartigkeit eines ersten Mals, wie wir sie in Kindheit oder Jugend spüren, geht bei Vielem verloren. All das, was wir routiniert tun, speichern wir aber nicht als etwas Besonderes in unserem Gedächtnis. Deshalb empfinden wir, als gehe die Zeit im Lauf des Lebens immer schneller um.
Sie befassen sich schon lange mit dem Thema Zeit, finden Sie, es ist heute ein viel größeres als noch vor ein paar Jahren?
Auf jeden Fall hat das Lamento über die Beschleunigung von Alltag und Arbeitslebens in den vergangenen 10 bis 20 Jahren zugenommen. Die Forschung beschäftigt sich natürlich schon seit vielen Jahrzehnten mit der Frage nach unserem Zeitempfinden. Allen voran die Soziologie, aber auch meine Disziplin, die Psychologie.
Die Klage, alles werde schneller, nennen Sie ein Lamento.
Wie die Generation 40 plus, zu der ich übrigens auch gehöre, mit dem Wandel umgeht, hat schon etwas von einem Heulen, ja. Es ist so: Menschen dieses Alters bestimmen einen Großteil der Diskussion über das Thema Beschleunigung. Sie sitzen an den entsprechenden Stellen in Medien und Öffentlichkeit und klagen über die schnellere Gangart, weil sie noch den Vergleich zu früher haben. Meine Generation hat zum Beispiel den Wandel vom Brief zur E-Mail mitgemacht. Auf einen Brief antwortete man innerhalb von zwei, drei Wochen, bei einer E-Mail fragen die Kolleg*innen schon nach einer Stunde, ob man sie nicht gelesen habe? Digital Natives sind in eine andere Geschwindigkeit hineingeboren und empfinden sie als weniger bedrohlich.
Über zu wenig Zeit klagen allerdings auch Schüler*innen oder Rentner*innen. Empfinden immer mehr Menschen Zeit als einen größeren Luxus als Geld?
Das glaube ich nicht. Die meisten Leute haben das Gefühl, sie könnten an ihrem Zeitmangel relativ schnell etwas ändern. Oder an sich selbst und ihren Prioritäten. Auch wenn sie das dann nicht tun oder hinbekommen. Beim Geld ist es ganz anders, ausgenommen vielleicht der Traum vom Lottogewinn: Es ist sehr schwer, seinen Verdienst erheblich zu erhöhen.
Aber können wir tatsächlich halbwegs einfach etwas an unserem Umgang mit Zeit verändern?
Die Voraussetzungen dafür sind auf jeden Fall gut: Wir arbeiten heute viel weniger als früher. Ab Freitag Mittag bekommt man keinen Handwerker*innen mehr. Schule am Samstag? Gibt es schon lange nicht mehr. Viele Leute haben heute zweieinhalb Tage Wochenende. Plus 30 Tage Urlaub. Eigentlich ist ganz viel Zeit da, und viele nutzen sie ja auch positiv. Das Gefühl des Getriebenseins verursacht vor allem der Wandel im Berufsleben. Für viele ist es außerdem auch schick und ein Maß für Wichtigkeit, keine Zeit zu haben.
Ist das wirklich noch so? Oder wird ein leerer Terminkalender zu einer Art neuem Prestigeobjekt?
Schön wäre es! Aber so weit sind wir noch nicht, dafür müssten wir erst einmal alle gelassene, autonome Menschen werden. Aber ich glaube schon, dass es gerade für Führungskräfte ein neuer Ausweis von Überlegenheit, Autonomie und Machtfülle werden könnte, wenn sie sagten: „Ich habe Zeit.“
Ist es sinnvoll, sich einen Zeitmanagement-Ratgeber zu kaufen?
Es gibt sicher chaotisch organisierte Personen, denen ein bisschen mehr Struktur hilft. Aber auch das Lesen solcher Bücher kostet Zeit. Da sind wir bei Michael Endes „Momo“: Durchs Zeitsparen verliert man Lebenszeit. Arbeiten Sie lieber an Ihrer Einstellung zur Zeit. Ein*e Raucher*in, zum Beispiel, geht jede Stunde einmal vor die Tür. Rauchen ist nicht gut, klar, aber Sie können als Nichtraucher*in ja auch eine Tasse Kaffee mitnehmen. Und die frische Luft, die Kälte oder Wärme, die eigene Körperlichkeit spüren – schon dehnt sich Zeit wieder. Man ist aus dem Hamsterrad draußen, die Gedanken sortieren sich. Plötzlich kommen Ihnen Ideen, die Ihnen unter Zeitdruck nicht gekommen wären.
So manches Unternehmen empfiehlt seinen Mitarbeitern Ähnliches. Sehen Sie da einen Bewusstseinswandel?
Stressbewältigung ist heute ein Mainstream-Thema und reicht von Angeboten der Arbeitgeber bis in den privaten Bereich. Die ganzen fernöstlichen Techniken der Kontemplation von Yoga, Tai Chi bis zur Meditation haben einen Boom erlebt. Früher machten das nur ein paar durchgeknallte Hippies, die gerade aus Indien kamen. Auch die Wissenschaft bildet den Trend ab: Früher hätte man seine Karriere vergessen können, wenn man Meditationsforschung betrieben hätte. Heute tun das berühmte Hirnforscher*innen.
Hat auch stete Beschleunigung irgendwann ein Ende?
Die Abläufe des täglichen Lebens werden tatsächlich immer schneller. Wir müssen uns an sie anpassen, ob beruflich oder in unserer Freizeit. Auch früher gab es schon Leute, die es krank machte, dass der Mensch plötzlich mit 30 Kilometern pro Stunde durch die Welt fahren konnte. Auch damals musste manch einer in ein Sanatorium eingeliefert werden. Man nannte das damals nur noch nicht Burnout sondern Neurasthenie, eine Art Nervenschwäche.
Warum reden wir so viel über Zeitmangel und Beschleunigung?
Wir leben nicht im Krieg, in Hungersnot oder in einer Diktatur. Wir haben viel Zeit, um über unsere Zeit nachzudenken.
Dieser Artikel erschien zuerst beim enorm Magazin.
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