Psychologie

Selbstoptimierungswahn in der Corona Krise

Wir versuchen, die freie Zeit möglichst effizient zu nutzen. Was passiert, wenn Selfcare zum Selbstoptimierungswahn wird und warum fällt es so schwer, einfach mal nichts zu tun?

Sarah Brunner

24.04.2020

Selbstoptimierungswahn in der Corona Krise

© Retha Ferguson via Pexels

Seit Beginn der Corona Pandemie blinkt mein Whatsapp Zeichen in Dauerschleife, um mich über “Motivationsgruppen” und Sport-Challenges an meine Untätigkeit zu erinnern. Die Idee dahinter: sich gemeinsam in der Krise zu motivieren, indem Aktivitäten geteilt werden. Mit jedem “Bling” auf dem Smartphone schaltet sich mein schlechtes Gewissen ein, weil ich heute noch kein Yoga gemacht habe, nicht im Park gejoggt bin und keinen Frühjahrsputz veranstaltet habe. Während meine Freund*innen morgens um 6 Uhr mit dem Workout beginnen, ziehe ich mir vor Frust die Decke über den Kopf. Ein kurzer Scroll durch den Instagram Feed lässt meine Laune leider auch nicht steigen: motivierte Influencer*innen, die gerade das zehnte Buch im Monat lesen und Produktivitäts-Tipps, wie wir die Zeit daheim sinnvoll nutzen können. 

Das Hamsterrad dreht sich auch in der Corona Krise weiter

Der Shutdown hat das öffentliche Leben lahmgelegt; in unseren vier Wänden treiben wir uns selbst aber weiterhin zur Höchstleistung. Man könnte meinen, dass solch eine Krise unser Hamsterrad entschleunigt, stattdessen dreht es sich jetzt in kleineren Räumen. In den letzten Wochen begegnete mir häufig der Satz: „Eure Großeltern mussten in den Krieg. Ihr müsst nur daheim auf der Couch bleiben”. Für viele von uns scheint es allerdings gar nicht so einfach zu sein, “nur” auf der Couch zu sitzen. Ich kenne einige Menschen – und nehme mich selbst da nicht raus – die lieber fünf Dinge gleichzeitig tun, als einen Tag lang die Füße hochzulegen. Wir, die Post War und Burnout Generationen, verwechseln das erfüllte Leben mit einem gefüllten Kalender und haben teilweise mehr Angst vor freier Zeit in der Corona Krise, also vor dem Virus selbst. Der moderne Homo Sapiens erträgt anscheinend viel Leid, wenn es um die Umgehung des Untätigsein geht: Bei einem Experiment im Jahr 2014 wurden Proband*innen gebeten in einem Raum zu warten, der außer einem Elektroschocker komplett leer war. Tatsächlich fügten sich schon nach 15 Minuten rund zwei drittel der Männer und ein viertel der Frauen selbst Stromschläge zu, obwohl sie diese bei einem vorherigen Testlauf als schmerzhaft eingeschätzt hatten.

Warum uns Abschalten so schwer fällt

Woher kommt es, dass wir lieber Stress und Schmerzen auf uns nehmen, als nichts zu tun?
„Zum einen, weil unser Lebenstempo so unglaublich schnell ist und uns wie ein Strom mitreißt. Wer da nicht eifrig mit den Armen kurbelt, droht unterzugehen.” meint der Philosoph und Politologe Martin Liebmann. Unsere Leistungsgesellschaft belohnt Workaholics und schließt diejenigen aus, die sich dem Druck nicht beugen wollen.
Zudem wird uns schon im Kindesalter eingeredet, dass Nichtstun etwas Schlechtes ist. Das spiegelt sich in Märchen wie “Frau Holle” wieder, in denen faule Figuren abgestraft werden. 
Liebmann geht aber auch davon aus, “dass es den meisten Menschen so schwer fällt, weil wir uns in der Muße selbst begegnen. Was, wenn da auf einmal eine große Leere ist? Allein die Vorstellung kann Angst machen.” Wir fürchten uns davor, unsere Gedanken auf uns selbst zu lenken, uns mit uns selbst zu beschäftigen und suchen stets nach Ablenkung.

Nichtstun fördert unsere Kreativität

Regelmäßiges Nichtstun ist extrem wichtig für unsere psychische Gesundheit und schafft Raum für Inspiration. In unserem Gehirn gibt es ein sogenanntes “default mode network”, das verschiedene Areale zusammenfasst und aktiviert wird, wenn wir vor uns hin träumen. Forscher*innen fanden heraus, dass genau dieses Netzwerk uns zu neuen Ideen verhilft. Denn, während wir unsere Gedanken schweifen lassen, beschäftigen wir uns automatisch mit uns selbst und können Ereignisse besser reflektieren. Im Umkehrschluss bremsen wir unseren Innovationsgeist, wenn wir pausenlos von einem Projekt zum nächsten springen. Wer einmal versucht hat an nichts zu denken, weiß dass es praktisch unmöglich ist, weil unser Gehirn dauernd aktiv ist. Leider ärgern wir uns meistens im Nachhinein über Tagträume und werten sie als verschwendete Zeit ab.

Faulsein bedeutet Energie sparen

Die Angst vor der Leere und der permanente Vergleich mit anderen bilden einen Antriebsmotor, der uns auch während einer Pandemie keine Ruhe gönnt. Natürlich ist es gut, dass es in unserer modernen Welt ein digitales Angebot für Sportkurse und Weiterbildungsmaßnahmen gibt. Und natürlich können wir die freie Zeit nutzen, um neue Dinge auszuprobieren und nach hinten verschobene Projekte endlich anzugehen. Genauso hilfreich ist es, einfach mal nichts zu tun und das ohne schlechtes Gewissen zu genießen. Wer sich jetzt gerade erschöpft und ausgelaugt fühlt, braucht vielleicht keinen grünen Smoothie sondern einen Tag auf der Couch. Wir sollten nicht unterschätzen, dass uns diese Krise mit der Flut an Nachrichten, die täglich auf uns einprasseln, sehr viel abverlangt. Unsere internen Verarbeitungsprozesse brauchen eine Menge Energie, damit wir uns an die neue Situation gewöhnen können.

Mentale Gesundheit als gemeinschaftliche Verantwortung

Auch beruflich dürfen wir jetzt bewusst einen Gang zurückschalten und unsere verfügbaren Ressourcen nutzen, um unsere Kolleg*innen mental zu unterstützen. Die Shitshow hat bereits vor der Krise ein Common Care Konzept vorgeschlagen, das wir besonders in der aktuellen Situation beherzigen sollten. Es geht dabei um eine „solidarische Idee von Fürsorge, die nicht die/den Einzelne*n, sondern die Gemeinschaft ins Zentrum stellt”. In einigen Unternehmen werden gesundheitsfördernde Programme für Mitarbeiter*innen angeboten. Das ist vielleicht nett gemeint, hilft aber nicht unbedingt dabei, die Ursachen zu beheben. Viel wichtiger ist eine gemeinsame Vision im Unternehmen, die psychische Erkrankungen nicht als Problem der/des Einzelne*n betrachtet, sondern als gemeinsame Verantwortung. Das bedeutet unter anderem, dass individuelle Belastungsgrenzen ohne negative Konsequenzen ernst genommen werden. Niemand sollte um seinen Job fürchten müssen, nur weil sie/er eine Auszeit braucht.

Beim Umgang mit Krisensituationen wünsche ich mir mehr Toleranz und Unterstützung bei den individuellen Bedürfnissen unsere*r Mitmenschen. Manch eine*r fühlt sich jetzt wohler mit vielen To Dos, während andere beim Abschalten ihre Batterien aufladen. Beides hat seine Berechtigung und sollte öffentlich gefördert werden.
Während ich mir also vornehme, meinen Freund*innen bei ihren Workouts zukünftig mehr (virtuell) zuzujubeln, starte ich meine eigene Challenge für die nächste Woche: eine Stunde am Tag mal nichts tun. Wer ist dabei?
 

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