Wie der Job unser Zeitgefühl beeinflusst
Frank Kaiser vom Institut für Berufspädagogik erklärt, wie sich der Job auf unsere Zeitvorstellung in der Freizeit auswirkt
© Anna Haifisch
Der Blick auf die Forschung macht klar: Es greift zu kurz, Zeit vor allem als persönliches Effizienzproblem zu betrachten und händeringend nach Wegen aus Time-Stress zu fragen. Zeit also, den Blick zu erweitern. Wir haben Wissenschaftler gefragt: Was beschäftigt Sie am Phänomen der Zeit? Herausgekommen ist kein How-to in besserer Zeiteinteilung, sondern ein Streifzug durch die Wissenschaft, voller Anregungen. Zu guter Letzt wollten wir von einem Berufsforscher wissen: Tickt die Zeit in der Arbeitswelt überall gleich?
Berufsforschung Universität Rostock, Institut für Berufspädagogik
Wie prägt der Job die Zeitwahrnehmung – und welche Zeitkulturen gibt es in unterschiedlichen Berufen überhaupt? Franz Kaiser sitzt im vierten Stock des alten Backsteinbaus der Universität Rostock, schaut auf den saftigen grünen Rasen, auf dem Studenten in der Sonne dösen, und seufzt ein wenig. Vor Jahren schon hat er zu diesen Fragen geforscht, doch die Ergebnisse seiner Studien sind kaum aufgenommen worden in seiner Disziplin – und in der Berufswelt überhaupt. Dabei sind sie äußerst spannend.
Der Professor für Berufspädagogik hat Straßenbahnfahrer, Bauleiter, Künstler und Hebammen befragt. Und festgestellt: Ihre Zeitvorstellungen sind erstaunlich unterschiedlich. Straßenbahnfahrern zum Beispiel war die Vorstellung schnell zu arbeiten, völlig fremd. In ihrem Job kommt es auf Pünktlichkeit an, auf Fahrplangerechtes Fahren. Leitrechner auf der Strecke signalisieren regelmäßig, wie sie zeitlich dastehen: eine Minute zu früh, eine Minute zu spät, genau richtig. Im Laufe der Jahre verinnerlichen sie diese Zeitabläufe und entwickeln ein zyklisches Zeitverständnis. Losfahren, pünktlich abarbeiten, wieder von vorn. Hebammen dagegen waren Zeitvorgaben fremd. In ihrem Beruf lernen sie, sich ganz darauf einzustellen, was auf sie zukommt. Künstler wiederum sagen unisono: „Der beste Umgang mit der Zeit ist, sie zu ignorieren.“ Leitende Angestellte setzen hingegen auf das Gegenteil: klare Zeiteinteilung, Prioritäten festlegen, möglichst schnell nach der Zeit-ist-Geld-Logik arbeiten.
Bemerkenswert: „Die Zeitkultur, die sie in ihrem Beruf lernen, prägt auch ihr Privatleben“, sagt Kaiser. Straßenbahnfahrer liebten eine durchgeplante Freizeit mit klarer Zeitordnung, leitende Angestellte wettkampforientierte, zielgerichtete Abläufe, zum Beispiel im Sport, Hebammen war es vor allem wichtig, was mit anderen zusammen zu machen – ohne Zeitplan, ohne feste Struktur. Kaisers Rat: „Wer seine Zeitvorlieben kennt, sollte bei der Berufswahl mit berücksichtigen: Passt sie zum zukünftigen Job?“
„Berufe erzeugen Subkulturen von Zeit, die in der Gesellschaft nebeneinander bestehen.“ Schneller, weiter, höher – diese Zeitvorstellung präge zwar unser Verständnis von Arbeit und Wirtschaft, aber viele Menschen lebten nach ganz anderen Rhythmen. „Anstatt das zu ignorieren, sollten wir uns dringend darüber austauschen“, fordert Kaiser. Damit die Zeitborniertheit der Always-busy-Fraktion nicht mehr allen vorgaukelt: Deine Zeitvorstellung ist falsch, unsere ist richtig. Kaisers Vorschlag ist: die eigene Zeitkultur einfach mal verlassen. Einen Tag den Straßenbahnfahrer begleiten oder den Bauern auf dem Land. Verständnis und Verständigung schaffen. „Sonst driftet unsere Gesellschaft immer mehr auseinander.“
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Teil 1: Über die Definition von Zeit