Psychologie

Schluss mit Self Care: Warum psychische Gesundheit mehr braucht

Psychische Gesundheit kann keine Aufgabe des Einzelnen und Self Care nicht unsere einzige Antwort bleiben. Unsere Arbeitswelt braucht ein Update im Kampf gegen psychische Belastung

Nele Groeger

11.09.2019

Schluss mit Self Care: Warum psychische Gesundheit mehr braucht

© Dorota Dylka via unsplash

Psychische Gesundheit kann keine Aufgabe des Einzelnen und Self Care nicht unsere einzige Antwort bleiben. Gerade Unternehmen müssen mehr Verantwortung tragen, denn auch unsere Arbeitswelt braucht ein Update im Kampf gegen psychische Belastung. Ein Plädoyer.

Wir haben einen Freund, nennen wir ihn einfach mal Felix. Felix arbeitet in der E-Commerce-Abteilung eines großen Buchhändlers, wo bis vor Kurzem so gut wie alles stimmte: Das Gehalt, das Team, die Aufgaben. Dann wurden Zeitdruck und Arbeitsintensität größer, das Team immer kleiner und seit einiger Zeit kann Felix nicht mehr schlafen. Er hat Herzrasen, diffuse Ängste, Selbstzweifel – und fühlt sich wie erschlagen, wenn er nach Hause kommt. Felix steuert dagegen an und nimmt die Symptome für psychische Überlastung ernst. Er plant am Morgen eine halbe Stunde mehr ein, um zu meditieren. Geht Joggen, achtet auf seine Ernährung. Aber trotz konsequentester Morgenroutine wollen die Ängste und Zweifel nicht wirklich verschwinden.

Generation Burnout

Stress, Angst, Erschöpfung und Gefühle des Ungenügens: So wie Felix geht es vielen und – nicht nur gefühlt – immer mehr Menschen. Die Zahl der Fehltage aufgrund von psychischen Problemen hat sich in den Jahren zwischen 2007 und 2017 verdoppelt, psychische Erkrankungen sind heute die dritthäufigste Ursache für Ausfälle am Arbeitsplatz. Und spätestens, seitdem klar ist, dass das Burnout Syndrom einen Platz im ICD-11 findet und damit offiziellen Krankheitsstatus erreicht, sollte klar sein, dass wir es mit einem handfesten Problem zu tun haben. Ein Problem, das doch eigentlich genug Zündstoff für echte Veränderungsprozesse liefern sollte… oder?  

Self Care als individuelle Symptombekämpfung

Eigentlich liegt es auf der Hand: Unsere Lebens- und Arbeitswelt verändert sich massiv, die Belastungen steigen. Wir müssten dort handeln, wo es wehtut. Doch im Kampf gegen die kollektive Erschöpfung liegen die Mittel der Wahl für viele im Privaten: Eine ganze Generation verschreibt sich der Self Care, ein Begriff, der die Fürsorge gegenüber sich selbst beschreibt. Egal ob Yoga, Joggen oder Achtsamkeit: Wer es gesund durch die hohen Anforderungen der neuen Arbeitswelt schaffen will, ist aufgerufen, an sich selbst zu arbeiten, fleißig die neuesten Meditations-Apps zu downloaden und sich in Coaching-Sessions in lösungsorientiertem Denken zu schulen. Der Markt an Self Care-Angeboten wächst rasant, ihre Abnehmer*innen trainieren sich in Resilienz und Belastbarkeit. Jede*r für sich allein. Und genau da liegt das Problem. Denn was wir bei all der Regenerationsarbeit vergessen: Wie es uns geht, das entscheiden nicht nur wir selbst allein.

Die Kraft des sozialen Umfelds

No woman is an island, das wissen wir – theoretisch. Doch wenn es um unsere psychische Gesundheit geht, tun wir häufig so, als stünden wir allein auf weiter Flur. Obwohl einer von vier Menschen (in Zahlen: 1 von 4!) mindestens einmal im Leben mit einer psychischen Erkrankung kämpft, behandeln wir Burnout, Depressionen, Angststörungen und Co. nach wie vor als Individualprobleme, mit denen die Betroffenen sich schön alleine abmühen dürfen. Dabei haben Studien nicht nur längst bewiesen, wie verbreitet psychische Belastungen und Erkrankungen sind. Sie zeigen auch, wie groß der Einfluss des sozialen Umfelds auf unsere Psyche tatsächlich ist – sei es bei der Früherkennung von Symptomen, der Senkung der Rehospitalisierungsraten oder dem Abbau von Stigmatisierung.

Unsere Arbeitswelt braucht ein Update

Auch die Menschen, mit denen wir arbeiten und die Bedingungen unter denen wir das tun – das zeigen Studien wie diese – haben Einfluss auf unser psychisches Wohlbefinden. In Zeiten von Arbeitsverdichtung, Digitalisierung und Flexibilisierung wird es daher umso wichtiger, Bedingungen zu schaffen, die es uns erlauben, psychisch gesund zu arbeiten. Doch gerade Unternehmen neigen häufig dazu, an die Selbstverantwortung der Mitarbeiter*innen zu appellieren und sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen. Anstelle etwas an den häufig organisational verursachten Problemen zu verändern, bürden sie ihren Beschäftigten zusätzliche „Arbeit am Selbst” auf – den Resilienzkurs am Wochenende, die Yogastunde in der Mittagspause. Und auch, wenn das dem Einzelnen durchaus gut tun kann: Die Ursachen für Überlastung, Erschöpfung oder Einsamkeit werden damit nicht angefasst.

Common Care – Ein Konzept für eine neue Lebens- und Arbeitswelt

Es wird höchste Zeit, über eine gemeinsame Vision nachzudenken, wie wir uns als Gemeinschaft vor psychischer Belastung und Erkrankung schützen und wie wir nachhaltig mit unseren psychischen Ressourcen umgehen können. Unser Konzept von „Common Care” ist eine solidarische Idee von Fürsorge, die nicht die/den Einzelne*n, sondern die Gemeinschaft ins Zentrum stellt. In einer Partnerschaft kann das bedeuten, gemeinsam Strategien zu entwickeln, destruktive Denkmuster in einer depressiven Episode zu erkennen und diese liebevoll zu adressieren. In einer Freundschaft bedeutet es vielleicht, sensibel für Veränderungen im Verhalten de*s Freund*in zu sein – und diese nicht als Abwertung der eigenen Person aufzufassen. In der Arbeitswelt können erste Schritte in Richtung Common Care darin bestehen, Mitarbeiter*innen mit ihren individuellen Belastungsgrenzen ernst zu nehmen, aktiv die Entstigmatisierung psychisch erkrankter Menschen voranzutreiben und eine vertrauensvolle Unternehmenskultur zu schaffen, in der niemand um seinen Job fürchten muss, wenn er eine schwierige Phase durchmacht.


Wer glaubt, dass eine solche Einstellung dem Erfolg eines Unternehmens im Wege steht, der irrt: In als gesund eingestuften Unternehmenskulturen berichten deutlich weniger Menschen von psychischen Belastungen, die Zahl der Krankschreibungen sinkt, die Kosten entsprechend auch.


Es gibt also viele Gründe, unsere Self Care-Begeisterung zumindest zu hinterfragen und wieder etwas mehr ans große Ganze zu denken. Die Yogamatte muss man deshalb ja nicht gleich wegschmeißen.

 

Die SHITSHOW ist eine Kommunikations- und Beratungsagentur für psychische Gesundheit. Genau genommen die erste ihrer Art. Wir beraten und befähigen Organisationen, Bildungseinrichtungen und Unternehmen, nachhaltiger mit den psychischen Ressourcen derjenigen umzugehen, die bei ihnen Leistung erbringen – und ihre Teilhabe, Kreativität und Produktivität zu erhalten. Dafür entwickeln wir Formate, die informieren, sensibilisieren und qualifizieren. Und die Themen der psychischen Gesundheit in die Mitte der Gesellschaft tragen.