Hinter dem Ackerrand wartet die Vielfalt – ein Blick lohnt sich
Agrokonzerne dominieren den Saatgutmarkt mit wenigen Hochleistungssorten. Man kann im eigenen Blumenkübel dagegenhalten – und nebenbei ein Statement für mehr Vielfalt setzen
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Die Bienen summen. Das Eiscafé brummt. Zeit, das Altglas von der letzten Party vom Balkon zu räumen und den Blumenkübel aus der Ecke zu ziehen, um endlich den grünen Daumen zu recken. Fehlt nur noch eine Handvoll guten Saatguts. Doch obwohl die Samen noch nicht einmal eingepflanzt sind, muss man sich jetzt schon durch einen Dschungel schlagen – einen Saatgut-Dschungel: Über 60 Prozent allen Saatguts weltweit werden durch immer weniger Agrokonzerne kontrolliert.
Doch diese Industrie ist sehr undurchsichtig. „Viele auf den ersten Blick unabhängig wirkende Saatgutlieferanten hängen dann doch mit Monsanto zusammen“, erklärt Hannes Popken, Gründer des Start-ups Rankwerk, das sich deswegen auf Home Gardening mit Demeter-Saatgut spezialisiert hat. Die Frage, was für Saatgut man nutzt, stellt sich auch für den Balkon. Denn die Probleme im dominierenden System der Landwirtschaft gelten auch im Kleinen.
Der Blick über den Ackerrand
Für Bauern weltweit entsteht nämlich eine Bindung, sogar Abhängigkeit von Saatgut mit passenden Agrochemikalien der Agrokonzerne. Zudem schlauchen Monokultur und der intensive Einsatz von Agrochemikalien die Ökosysteme: Böden mit ihren zahlreichen Bodenorganismen geraten aus dem Gleichgewicht, auch Klima und Artenvielfalt werden geschädigt. Viele Experten aus Praxis und Wissenschaft fordern deswegen ein Umdenken zugunsten ökologischer Landwirtschaft und die Förderung kleinbäuerlicher Strukturen.
Ein Schlüsselwort zukunftsfähiger Landwirtschaft: Vielfalt. Sie ist gewissermaßen eine Versicherung für die Zukunft. Durch Sortenvielfalt können Anbauer innovativ auf sich immer schneller ändernde Umweltbedingungen durch Klimawandel oder Schädlinge reagieren. Ganz nebenbei ist Saatgut ein jahrtausendealtes Kulturgut. Doch im System industrieller Landwirtschaft geht Sortenvielfalt zu Gunsten weniger konformer Hochleistungssorten verloren. Die Welternährungsorganisation FAO schätzte schon 1993, dass in nur 100 Jahren drei Viertel aller Nutzpflanzen verloren gegangen sind. Allein in Deutschland stehen über 1.800 Nutzpflanzensorten auf der Roten Liste der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung.
Das interessiert die Bohne
Doch gegen den Verlust der Sortenvielfalt ist ein Kraut gewachsen: alte Sorten und auf nachhaltige Landwirtschaft ausgelegte Neuzüchtungen. Besonders die drei Verbände Demeter, Naturland und Bioland stechen durch ihren konsequent ökologischen Ansatz heraus, der noch über das EU-Biosiegel hinausgeht. „Demeter bietet volle Transparenz“, erklärt Popken, warum Rankwerk dieses Gütesiegel nutzt: „Das ist besonders in Anbetracht der undurchsichtigen Übermacht der Agrokonzerne ein großes Plus.“
Auch der Qualitätsstandard dieser drei Verbände ist besonders hoch. Sie stehen für nachhaltige Landwirtschaft und Sortenvielfalt. Demeter, benannt nach der griechischen Göttin der Fruchtbarkeit, hat dabei einen philosophischen Überbau: den bio-dynamischen Ansatz Rudolf Steiners. Dessen anthroposophisches Konzept gilt vielen als zu esoterisch, tut der hohen Qualität des Demeter-Siegels jedoch keinen Abbruch. Was alle drei Gütesiegel wiederum verbindet ist der Kreislaufgedanke der Mitgliedsbetriebe. Die Bio-Bauern setzen auf Synergieeffekte und geschlossene Hofkreisläufe: Kuhmist wird zu Kompost für die Äcker, auf denen wieder Kuhfutter und Gemüse wachsen. Obstbäume und Hecken schützen die Felder vor Wind und bieten Nützlingen Unterschlupf. Der Grünschnitt kann wiederum zur Energiegewinnung für den Betrieb genutzt werden.
Flatrate statt Einweg
Ein weiteres großes Plus des Bio-Saatguts: Die Pflanzen sind samenfest. Das heißt, aus ihnen lässt sich ohne Weiteres neues Saatgut ziehen. Das steht im Kontrast zu den konventionell häufig zum Einsatz kommenden Hybridpflanzen. Die sind unter den Bedingungen der intensiven Landwirtschaft sehr ertragreich. Doch da sie nicht nur patentiert, sondern Hybride sind, lassen sie sich nicht natürlich vermehren. Sozusagen Einweg-Saatgut.
Hingegen bieten samenfeste Pflanzen eine Saatgut-Flatrate: Wenn ein Anbauer einmal samenfestes Saatgut gekauft hat, kann er immer wieder neue Samen gewinnen. Es tauschen. Oder durch eigene Züchtung an lokale Gegebenheiten anpassen. Von (samenfesten) Tomaten beispielsweise lässt sich relativ einfach Saat gewinnen: die kleinen Plättchen in der gallertartigen Masse von Tomaten. Man löffelt die Masse aus der Tomate, gibt sie in ein feines Sieb und befreit unter Wasser die Samen. Dann lässt man sie nur noch auf einem Küchentuch trocknen und fertig ist das eigene Saatgut.
Bio-Balkonien als Statement
Wer das System nachhaltiger Landwirtschaft im Kleinen erproben will, hat dazu auch in der Stadt viele Möglichkeiten. „Nachhaltiges stadtgärtnern kann ein Schlüssel sein, um neue Wege in der Landwirtschaft zu fördern“, ist Popken überzeugt, „indem man nachhaltiges Saatgut unterstützt und sich für die Schritte hinter Nahrung wieder sensibilisiert.“ Viele der alten Sorten gedeihen selbst in Balkonkübeln. Durch etwas höhere Temperaturen in Städten kann man häufig sogar zweimal Saison feiern: Sowohl im Frühling als auch im Herbst sprießen die eigenen, noch dazu unverpackten Früchte des eigenen grünen Daumens.
Doch auch auf die inneren Werte kommt es an: „Am besten sollte man Bio-Erde nehmen. Die ist frei von Pestiziden. Dafür gut durchkompostiert, sodass alle lästigen Parasiten durch die Hitze bereits abgestorben sind“, erklärt Popken, „und aus Klimaschutzgründen sollte die verwendete Erde torffrei sein.“ Wenn man nur einen Blumenkübel zur Verfügung hat, sollte man die Erde übrigens jährlich wechseln. Denn im begrenzten Rahmen eines Blumentopfes können sich die so wichtigen Bodenorganismen nicht selbst auffrischen. Um dieser Erde noch den persönlichen Kick zu geben, lässt sich aus Obst- und Gemüseresten oder Kaffeesatz eigener Kompost herstellen. Derzeit liegt besonders das japanische System Bokashi, ein spezieller Komposteimer, dafür im Trend.
Gärtnern für Faule
Doch nicht nur Kompost und Kreislauf sind ein gutes Team. Auch manche Sorten harmonieren besonders gut: „Tomate und Basilikum passen nicht nur auf dem Teller zusammen, sondern auch im Beet“, erklärt Popken, „weil der Basilikum Düfte ausstößt, die Parasiten von den Tomatenpflanzen abhalten.“ Von Zucchini sollte man mindestens zwei Pflanzen in den Boden bringen. Denn sie befruchten sich gegenseitig. Und Salate und Kräuter gedeihen auch gut nebeneinander. Sogar als Flat: „Rauke zu säen ist gärtnern für Faule“, weiß Popken. Denn lässt man ein bisschen was davon stehen, sät Rucola sich immer wieder selbst aus. So wird auch der Balkon ein Dschungel: ein samenfester Rauke-Dschungel und ein Statement für Vielfalt. Saat gut, alles gut.