Psychologie

Selbstoptimierung: Manchmal reicht ein „gut“

Vom Wunsch nach Selbstverwirklichung bleibt nur der Druck zur Selbstoptimierung? Muss man aussteigen oder das nächste coole Start-up gründen? Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit

Lena Wittneben

06.05.2018

Das Team von Pausenkicker: Lena, Sina und Katrin

© Lilli Lafeld

Schauen wir uns im App-Dschungel um, auf dem Webinar-Markt, bei den (Fitness-)Tracker-Anbietern und in zahlreichen Coaching-Angeboten, so fällt schnell eines auf: Die Schraube der Selbstoptimierung ist längst in allen Lebensbereichen bis zum Anschlag angezogen.

Angefangen bei der Optimierung der eigenen Ernährung, vom intermittierenden Fasten über no bis high carb, clean und raw eating oder Ayurveda-Kost, das ständige „Tunen“ durch Nahrungsaufnahme gleicht einer Religion.

Genauso wirkt die Jobsuche mit ihren „Algorithmen-Profilen“ und „tinderartigen Apps“ wie eine Jagd nach der vermeintlich perfekten Stelle im ebensolchen Unternehmen. Ganz zu schweigen von der Masse an Kursangeboten, die dazu dienen, um an den eigenen Soft Skills zu feilen, um schlagfertiger, verhandlungssicherer und durchsetzungsfähiger zu werden oder auch die charakterlichen oder innerseelischen Baustellen zu bearbeiten.

Selbst beim Entspannen wird optimiert

Der Vergleich mit der Suche nach dem Traumpartner auf Flirtportalen gehört schon längst zu den Akten gelegt. Ohne leichtbekleideter Fitness-Selfie-Pose gibt es nur ein Wisch & Weg. Besser und passgenauer geht immer! Warum mit dem Durchschnitt zufriedengeben? Je hübscher, sportlicher, agiler und hipper der Partner, desto optimierter das hungrige Ego.

Unser Jahrzehnt der Selbstoptimierung lässt sogar Entspannungsangebote zum Imperativ verkommen. Wir wollen auf Knopfdruck relaxen, „Meditation to go“, uns mit Powernaps in hippen Firmenlounges aufladen oder via digitalen Entschleunigungsapps erholen.

Einzeln betrachtet hat ein jedes Angebot und Vorschlag, egal, ob binnen Ernährung, Partner- und Jobsuche oder Selbstkompetenz-Seminar seine Berechtigung, Zielgruppe und Bestimmung. Und wieso nicht Helfer, ob digital oder noch analog, in den eigenen Alltag aufnehmen, um vermeintliche Mängel zu stärken, sich besser zu fühlen oder an unliebsamen Ecken und Kanten zu feilen.

Wirklich giftig schmeckt der Selbstoptimierungs-Smoothie erst im „Selbstfindungswahn“ unserer schönen neuen Arbeitswelt. Kein Tag ohne unzählige Posts in Start-up-Magazinen, die uns erfolgreiche Gründerstorys unter die Nase reiben.

Aus der Klischee-Schublade gezogen: Der Banker, kurz vor dem Burnout, der mit seinen zwei besten Kumpels dem Großkonzern den Rücken zugekehrt hat und stattdessen die ultimative Fintech-Erfindung in die Welt bringt. Oder die Grafikerin, die nun hauptberuflich vom eigenen Blog und Shop für selbstgenähte Kindermode lebt und – Stereotyp sei Dank – natürlich die Unternehmensberaterin, ausgebrannte Werberin oder Ärztin, die sich ihren Herzenswunsch erfüllt und nach knapp 20 Jahren Schuften nun beim Winzer in die Lehre geht, ein Café im skandinavischen Stil eröffnet oder eine Pension führt.

Muss man unbedingt was Neues anpacken?

Doch was hat „Mut zum Herzblut“, Ausstieg aus dem alten Hamsterrad oder Kurskorrektur im Beruf mit Selbstoptimierungshype zu tun?

Die schillernden One-(Wo)man-Shows oder Gründergruppen mit der zweiten Herzblut-Karriere, nachdem sie – zumindest finanziell und am Prestige gemessen – vorher schon erfolgreich waren, üben immensen Druck auf viele Menschen aus.

„Warum habe ich keine Leidenschaft, mit der ich anstelle meines 9-5 Jobs mein Geld verdiene?“, „Sollte ich mich nicht auch selbständig machen und dann endlich glücklich werden?“, „Warum habe ich keine Idee, Talent, Berufung für das nächste große Ding im Internet?“

Die gesellschaftliche Stimme, sich unbedingt beruflich selbst zu verwirklichen, tönt gerade in Gründermetropolen in den Ohren der Generationen X und Y mitunter schrill und schräg. Gleichzeitig gilt es, die Altersvorsorge zu stemmen (die Menschen werden schließlich dank gesunder Ernährung und Fitness auch immer älter!) und sowieso eine Familie (gesellschaftliches Statussymbol) zu gründen.

Dem Eifer und Elan noch mal was ganz Neues anzufangen gilt Respekt, Bewunderung und Lob. DEM, der es möchte und sich vom alten (Lebens-)Wandel verabschieden will.
Warum nicht auch im Beruf bleiben?

Nichts ist schöner, als mit Herzblut das Brot und die Miete zu verdienen. Nur ist auch nichts verkehrt daran, im eigenen Beruf zu bleiben und bei einer Tätigkeit, in der man „nur“ mittelmäßig performt und die mittelmäßig bezahlt ist. Solange sie Herz, Hirn und Konto grundsätzlich befriedigen, warum nicht?!

Möglicherweise braucht es auch keine Heerscharen von Gründern, wenn es gar keine Ambitionen gibt, um mit dem eigenen Steckenpferd den Lebensunterhalt zu bestreiten. Ein Reiseblog kann auch ein Hobby sein, ohne „Optimierungsdruck“ sich damit zu finanzieren.

In diesem Sinne ein erneutes Aufwachen: „Arbeitszeit ist Lebenszeit“ – möge ein jeder diese Lebenszeit mit den Dingen füllen, die einem gut tun, die erfüllen, bestenfalls Spaß machen und für Brot und Miete sorgen. Manchmal reicht ein „gut“ zum Wohlfühlen und Zufriedensein. Ein „besser“, ein „bigger, better, faster, more“ geht immer – aber die erwähnte Schraube ist schon zum Anschlag gedreht. Es heißt loslassen – nur ohne Entspannungsanspruch!

„Arbeitszeit ist Lebenszeit“

Input für eine neue und gesunde Arbeits- und Unternehmenskultur gibt es zum Beispiel auf der Konferenz „Arbeitszeit ist Lebenszeit“. Mehr ein Event, denn als eine „frontale“ Konferenz; hier geht es mit eingebundenem Bar Camp interaktiv zur Sache, mit Musik, Gesang, Essen, Trinken, einander Austauschen, unterschiedlichsten Blickwinkeln und Gästen. Ein Teil des Eintrittspreises geht an ein gestalterisches Bildungsprojekt der Lichtwark-Schule.

Pausenkicker

Unser Trainingskonzept Pausenkicker zeigt darüberhinaus Möglichkeiten auf, die körpereigenen Ressourcen kennenzulernen, zu schützen und zu stärken, ganz ohne Gründerdrang und Selbstverwirklichungszwang!

Lena Wittneben hat mit Katrin Wulff und Sina Morcinek das Trainingskonzept Pausenkicker gegründet und die Konferenz „Arbeitszeit ist Lebenszeit“ auf die Beine gestellt.

 

Dieser Artikel erschien zuerst auf Good Impact.

Tags

    Selbstoptimierung Pausenkicker Selbstverwirklichung Gelassenheit