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Wirtschaft ist Care – Warum wir Ökonomie neu denken müssen

Ohne Care Arbeit würde unsere Wirtschaft nicht funktionieren. Trotzdem geht es in unserem Verständnis von Ökonomie fast ausschließlich um Geld oder Güter. Warum, erfahrt ihr hier

Ina Praetorius

26.02.2020

Wirtschaft ist Care – Warum wir Ökonomie neu denken müssen

© Félix Prado via Unsplash

Der Begriff Care ist im Mainstream angekommen: Man spricht davon und meint meist die un- oder unterbezahlte Arbeit, die vor allem Frauen täglich weltweit leisten und ohne die das menschliche Zusammenleben kollabieren würde. Elf Billionen US-Dollar im Jahr sei diese Arbeit derzeit wert, hat kürzlich die Organisation Oxfam berechnet

Care Arbeit im Zentrum allen Wirtschaftens

Wie verhält sich dieses riesige Arbeitsvolumen zu unserem gängigen Verständnis von „Wirtschaft“? Diese Frage zu beantworten, hat sich der im Dezember 2015 in St.Gallen gegründete Verein WiC (Wirtschaft ist Care) zur Aufgabe gemacht. Er sagt: Care ist kein beliebiger „Sektor“, den die noch dominante ökonomische Theorie und Praxis einfach „einbeziehen“ könnte, und alles käme in Ordnung. Care ist vielmehr die Mitte allen Wirtschaftens. Denn Wirtschaften hat laut allgemein akzeptierter Definition nur ein einziges Ziel: die Befriedigung der Bedürfnisse aller Menschen, die zusammen den verletzlichen Lebensraum Erde bewohnen. Die ganze Wirtschaft ist also Care, oder sie muss Care werden. Denn was sollte Wirtschaft anderes sein als unser Sorgen füreinander und für die Erde?

Der Begriff „Ökonomie“ leitet sich von den griechischen Wörtern oikos (Haus, Haushalt) und nomos (Lehre, Gesetz) ab. Die Oiko-Nomia ist folglich die Lehre vom guten Haushalten. Weil es Aufgabe der Haushalte ist, die Bedürfnisse derer zu befriedigen, die im Haus zusammenleben, steht auf den ersten Seiten fast aller ökonomischer Lehrbücher ein Satz, der sich ungefähr so anhört: „Es ist Aufgabe der Wirtschaftslehre zu untersuchen, wie die Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse am sinnvollsten hergestellt, verteilt und ge- oder verbraucht werden.“

Ist Ökonomie bloß eine Lehre von kauf- und verkaufbaren Gütern?

Ab Seite zwei allerdings handeln die gängigen Lehrbücher nur noch von Waren und Diensten, die man gegen Geld tauschen, also kaufen und verkaufen kann. Zwar bestreitet niemand ausdrücklich, dass auch unbezahlte Arbeit menschliche Bedürfnisse befriedigt. Aber sie kommt einfach nicht mehr vor.

Diese seltsame Ungereimtheit rührt daher, dass man schon in der Antike einer „höheren“ Sphäre herrschaftlicher Freiheit (Polis) einen „niedrigen“ Bereich weiblich-sklavischer Dienstbarkeit (Oikos) untergeordnet hat: Im Oikos, dem von einem Hausherrn kontrollierten Haus, hatten Ehefrauen, Sklav*innen, Kinder und Haustiere alle alltäglichen Bedürfnisse zu erfüllen und für den Fortbestand der Gattung zu sorgen. Anders als die Herren galten sie nicht als „frei“, sondern als Wesen, die von Natur aus zum Dienen bestimmt sind.

Die unsichtbare Hand des Marktes

Diese hierarchische Idee von der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse änderte sich auch nicht, als Adam Smith und seine Freunde im 18. Jahrhundert den Wirtschaftsliberalismus mit seiner Idee von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ erfanden. Diese unsichtbare Hand, das sind nämlich in Wirklichkeit die unzähligen Hände derer, die immer noch ohne „finanzielle Anreize“ das Notwendige tun, sprich: kochen, waschen, putzen, Kinder gebären und großziehen, das „feindliche Leben“ durch häusliche Harmonie erträglich machen, und so weiter. Ohne die täglich überall in der Welt stillschweigend erbrachten Care-Leistungen gäbe es keine Menschen. Was aber sollte „Wirtschaft“ ohne Menschen bedeuten?

Von der feministischen Hausarbeitsdebatte zur Care-zentrierten Ökonomie

In den 1970er Jahren führten Feministinnen die „Hausarbeitsdebatte“. Sie lenkte den Blick auf die Arbeit, die trotz so genannter „Emanzipation“ noch immer vor allem Frauen in Privathaushalten gratis leisten. Ein Erfolg dieser Debatte war, dass man in vielen Ländern anfing, die unbezahlte Arbeit statistisch zu erfassen. Am 11. Dezember 2017 erklärte zum Beispiel das schweizerische Bundesamt für Statistik, das seit 1997 Erhebungen zur unbezahlten Arbeit durchführt: „Im Jahr 2016 wurden von der gesamten ständigen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren (...) 9,2 Milliarden Stunden unbezahlt gearbeitet. (...) Im Vergleich dazu wurden 7,9 Milliarden Stunden (...) bezahlt gearbeitet. Die Frauen übernehmen 61,3% des unbezahlten Arbeitsvolumens, die Männer 61,6% des bezahlten Arbeitsvolumens. Die Hausarbeiten (...) machen mit 7,1 Milliarden Stunden gut drei Viertel des Gesamtvolumens an unbezahlter Arbeit aus (77%). Die Betreuungsaufgaben für Kinder und Erwachsene im eigenen Haushalt lassen sich mit 1,5 Milliarden Stunden pro Jahr beziffern (...).“ Global gesehen sind die Verhältnisse, wie die neue Oxfam-Studie zeigt, nicht wesentlich anders.

Bedürfnisbefriedigung – Maß der „Dinge“?

Zunächst forderten Feministinnen die „Einbeziehung“ des größten Wirtschaftssektors in die offizielle Ökonomie, zum Beispiel ins Bruttosozialprodukt und in die Berechnungen für die Höhe der Altersrenten. Auch Forderungen nach einem Lohn für Hausarbeit wurden laut. Es zeigte sich aber bald, dass es um viel mehr geht: nämlich darum, dass die Ökonomie als Ganze zu ihrem selbstdefinierten Kerngeschäft zurückfindet. Wenn Ökonom*innen und Manager nämlich – zum Beispiel alljährlich in Davos – über die „Weltwirtschaft“ sprechen, dann gehören Care-Leistungen in die Mitte. Denn niemand kann im Ernst behaupten, bei der Herstellung von Panzern, Autos oder Handtaschen handle es sich um Bedürfnisbefriedigung, nicht aber bei der Erzeugung und Versorgung von Menschen in Privathaushalten.

Wirtschaft ist Care

In der entstehenden globalen Care-Bewegung geht es also nicht nur um Gerechtigkeit für die Care-Arbeiter*innen, sondern um eine Ökonomie, die ihren Namen verdient. Und angesichts der Klimakrise ist am wichtigsten wohl dies: Wer Care in die Mitte der Ökonomie rückt, kehrt zu einer realistischen Selbstwahrnehmung zurück. Es wird wieder spürbar, dass alle Menschen, nicht nur die so genannten „Schwachen“, fürsorgeabhängig sind. Diese Einsicht wiederum hat direkte Konsequenzen für ökologische Politik: Wir erkennen wieder, dass kein Mensch sich über die Natur erheben kann. Als geburtliche und sterbliche Wesen sind wir alle Teil der Natur und damit abhängig voneinander und von einer intakten Mitwelt.

 

Zum Weiterlesen:

- Ina Praetorius, Wirtschaft ist Care oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen, Berlin (Heinrich Böll Stiftung) 2015
Wirtschaft ist Care. Comicbroschüre der Siebten Schweizer Frauen*synode, Luzern 2018

 

Der Verein WiC (Wirtschaft ist Care) wurde im Dezember 2015 in St. Gallen gegründet. Er setzt sich ein für die Reorganisation der Ökonomie um ihr Kerngeschäft – die Befriedigung tatsächlicher menschlicher Bedürfnisse weltweit. Mit Veranstaltungen, Expert*innenrunden, Publikationen, einer Postkartenserie zum Thema „Karwoche ist Carewoche“, einem 6-Minuten Erklärfilm, einer Comic-Broschüre und mehr bringt er die Idee in die Welt, dass Ökonomie alles umfasst, was Menschen im verletzlichen Lebensraum Erde füreinander tun, egal ob bezahlt oder unbezahlt.

Ina Praetorius, Dr. theol., geb. 1956 in Karlsruhe, lebt seit vielen Jahren als freie Autorin und Referentin in Wattwil im ländlichen Toggenburg (Kanton St.Gallen). Sie ist verheiratet, Mutter und Großmutter und liebt das interkulturelle Zusammenleben mit Menschen aus aller Welt. www.inapraetorius.ch

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