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Warum wir wieder Utopien brauchen

Die heutige Überzeugung es gäbe nichts mehr, an das man glauben kann, macht uns blind für die Ungerechtigkeiten, die uns auch heute noch umgeben.

Jana Malderle

06.02.2018

Warum wir wieder Utopien brauchen

© James Motter via Unsplash.com

Heute leben wir im Land des Überflusses. Die Fähigkeit von neuen Utopien zu träumen haben wir fast gänzlich verlernt – zumal der Wecker viel zu früh klingelt. Rutger Bregman setzt in seinem neuen Buch mit spielerischer Leichtigkeit Zitate von Philosophen und Wissenschaftlern, als auch Zahlen und Erkenntnisse aus Statistiken und Studien ein, um uns diesen Zustand vor Augen zu führen und unseren Blick auf eine bessere Zukunft zu schärfen.

Scharf ist das richtige Stichwort, was Bregmans Meinung zu Politik und dem freien Markt angeht. Während sich die Gesellschaft nicht frei entfalten könne und in einer „leeren Freiheit“ lebe, die in Furcht vor moralischen Urteilen zurückschreckt und von den Mächtigen zurechtgebogen würde, seien der Markt und die kommerziellen Interessen freier denn je.

„Die Lebensmittelindustrie versorgt uns mit billigem Abfall, der reichlich Salz, Zucker und Fett enthält, und bereitet uns auf den Weg zum Arzt und zum Ernährungsberater vor. Der technologische Fortschritt macht immer mehr Arbeitsplätze überflüssig und schickt uns zurück zum Berufsberater. Die Werbung ermutigt uns, Geld, das wir nicht haben, für Dinge auszugeben, die wir nicht brauchen, um damit Leute zu beeindrucken, die wir nicht leiden können. Anschließend können wir zum Therapeuten gehen, um uns auszuweinen. Das ist die Dystopie, in der wir heute leben.“ Zwar gehe es uns heute besser denn je, doch wirklich gut gehe es uns nicht.

Freizeit auf maroden Pfeilern

Vielleicht hielten sich unsere Großeltern an Regeln, die von Familie, Kirche und Gesellschaft vorgegeben wurden, doch die Generationen danach – so Bregman – würde von Medien, Marketing und einem paternalistischen Staat in ein Korsett gezwängt. Unsere Freiheit steht sozusagen auf maroden Pfeilern, die von einem furchtlosen Wind ins Schwanken gebracht wird.

Nie zuvor erlitten derart viele Menschen schon zu Beginn ihrer Karriere einen Burnout. Es werden mehr Antidepressiva eingenommen als je zuvor. Kein Wunder: Schon seit den achtziger Jahren kam die Arbeitszeitverkürzung zum Stillstand und während Paare in den fünfziger Jahren insgesamt fünf bis sechs Tage pro Woche arbeiteten, sind es jetzt eher sieben oder acht Tage. Dies sei nach Bregman teilweise auf die feministische Revolution zurückzuführen. So waren im Januar 2010 Frauen zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg diejenigen, die den Großteil der amerikanischen Erwerbstätigen stellen würden. Die niederländische Komikerin Mirjam Schöttelndreier bringt es auf den Punkt: „Meine Großmutter hatte kein Wahlrecht, meine Mutter hatte keine Empfängnisverhütung, und ich habe keine Zeit.“

Blind für die Ungerechtigkeiten, die uns umgeben

Je reicher die Vorstellung der Utopie, desto schlechter ist das Leben der Menschen. Die Vorstellung des Schlaraffenlandes würde uns klar und deutlich zeigen, wie schrecklich das Leben im Mittelalter gewesen sein muss. Da es uns heute besser geht als je zuvor, fallen unsere utopische Vorstellung schlichter aus. Es könnte etwas Gutes sein,  jedoch gleicht dieser Zustand einer Falle, aus der wir uns befreien müssen:

„Die heutige Überzeugung – oder, schlimmer, der Glaube –, es gebe nichts mehr, an das man glauben kann, macht uns blind für die Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten, die uns auch heute noch umgeben.“

Buch für Realisten und Utopisten

Auch wenn einige Erkenntnisse Bregmans einen negativen Beigeschmack haben, sollen wir uns nicht entmutigen lassen. Denn nur wer Unzufriedenheit erkennt, ist nicht gleichgültig – und nur wer nicht gleichgültig ist, kann den einschränkenden Zeitgeist abschütteln, um zu erkennen, dass wir gemeinsame Ideale haben.

Utopien für Realisten“ ist ein Buch um uns aufzuwecken und wachzurütteln. Bregman schafft es, einzelne Seiten mit einer Fülle an Informationen und Aha-Momenten zu füllen, die nicht nur fantasievolle Gedanken sind, sondern fundiert belegt werden können – ohne langweilig zu wirken.

Wer hätte beispielsweise gedacht, dass die USA in den 70er Jahren fast ein Grundeinkommen verabschiedet hätte? Oder dass wir im Jahr 2030 voraussichtlich nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten werden? Bregman hat damit etwas außergewöhnliches geschaffen: Ein Buch, das gleichermaßen für Realisten wie Utopisten ist.