Zu schön um wahr zu sein? So klappt’s mit unbegrenztem Urlaub
Auch wenn es „unbegrenzter Urlaub“ heißt, zeigt die Praxis: So ganz ohne Regeln geht es nicht. Das erkennen auch immer mehr Start-ups, die mit dem System experimentieren
Artyom Manchenkov via Unsplash
In den USA gibt es keinen Anspruch auf bezahlten Urlaub. Diese fragwürdige Flexibilität nutzen aber immer mehr Firmen aus, um ihre Mitarbeiter*innen quasi mit dem genauen Gegenteil zu verwöhnen: unbegrenztem Urlaub. Warum das schwieriger ist, als es sich anhört, welche Probleme dieser mit sich bringen kann und wie es trotzdem zum Wohle aller funktionieren kann.
Woher die Idee stammt, ist schwer zu sagen. Es gibt Firmen, die praktizieren entsprechende Unternehmenskultur seit den 1990ern. Bei dem Online-Stremingdienst Netflix, welcher seit 2004 keine Urlaubstage mehr erfasst, geht die Geschichte in etwa so: Ein Mitarbeiter kam eines Tages in das Büro von CEO Reed Hastings. Seine Frage: Wenn ihr meine Arbeitszeiten nicht erfasst, wieso dann Urlaubstage? Hastings wusste keine Antwort darauf – und schaffte alle Regeln rund um Urlaub einfach ab.
Die Idee fand zunächst natürlich vor allem unter jungen, dynamischen Start-ups aus dem Silicon Valley Verbreitung. Entsprechend der Netflix-Geschichte ist es für die durchaus sinnvoll und passt in die Mentalität: Wenn man bei Arbeitszeit und -ort und so ziemlich allem anderen auch maximal flexibel ist – wieso dann nicht auch beim Urlaub? Inzwischen haben unzählige Firmen mit ähnlichen Modellen wie dem "unbegrenzten Urlaub" zumindest experimentiert.
Erholte Mitarbeiter*innen leisten mehr
Die Vorteile liegen auf der Hand: Es ist nicht nur ist ein schöner Vorteil, um Bewerber*innen anzulocken und Mitarbeiter*innen zu halten. Es ist längst erwiesen, dass Erholung für gute Leistung unabdingbar ist. Dabei rechnen sich ein paar Urlaubstage mehr durchaus auch für das Unternehmen. Den Urlaub selbstbestimmt und nach den eigenen Bedürfnissen nehmen zu können, ist außerdem ein entscheidender Schritt hin zur vielbeschworenen Work-Life-Balance und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Doch genau da beginnen die Probleme. Denn bei den meisten Firmen zeigte sich, dass die Mitarbeiter mit der neuen, unbegrenzten Regelung im besten Fall genauso viel Urlaub machten wie vorher. Die Regel war sogar umgekehrt: Viele nahmen noch weniger Urlaub, obwohl sie ja so viel nehmen konnten, wie sie wollten.
Warum das so ist, zeigt sich wahrscheinlich am besten an einem Blogpost des britischen Milliardärs Richard Branson von 2014: Bei seiner Unternehmensgruppe Virgin könnten die Mitarbeiter*innen künftig so viel Urlaub machen, wie sie wollen – wenn die Arbeit erledigt wird. Heißt im Umkehrschluss: Mach nur Urlaub, wenn Du nichts zu tun hast. Und einmal ehrlich: Wann ist das jemals der Fall?
Beim Übergang der Idee in den Mainstream – also große Firmen – zeigte sich noch ein anderes Problem: Als das US-amerikanische Verlagshaus Tribune unbegrenzten Urlaub einführte (für etwa eineinhalb Wochen), waren die Mitarbeiter*innen irritiert und wussten schlicht nicht, wie sie mit der neuen Regelung umgehen sollten. Die meisten wünschten sich einfach klare Vorgaben, auf die sie sich verlassen können.
Genauso zeigt sich an dem Beispiel von Netflix, dass die Entlohnung anstatt von Arbeitszeit und -leistung abzuhängen, nun vielmehr von der Produktivität beeinflusst wird. In einer Gesellschaft, die kritisch gegenüber dem unendlichen Wirtschaftswachstum und Produktivitätswahn sein sollte, stellt das ein Defizit dar. Mitarbeiter*innen nehmen teilweise viel mehr Aufträge an, als sie zeitlich schaffen, damit sie mehr verdienen und überarbeiten sich. Wir denken nicht, dass mehr freie Zeit automatisch mit einer höheren Produktivität gleichgesetzt werden sollte.
Es braucht Regeln – auch bei unbegrenztem Urlaub
Wie also klappt es doch mit so etwas wie unbegrenztem Urlaub – und zwar so, dass sowohl Mitarbeiter*innen als auch das Unternehmen profitieren? Nathan Christensen ist Chef der Personalberatung Mammoth und hat in seiner Firma ein Jahr lang unbegrenzten Urlaub ausprobiert. Sein Fazit sind fünf Regeln, die recht gut zusammenfassen, was es für eine erfolgreiche Umsetzung des Konzepts braucht:
1. Einen anderen Namen finden. So etwas wie „selbstbestimmter“ oder „flexibler“ Urlaub mache klarer, worum es tatsächlich geht.
2. Die Regelung muss in den Unternehmenswerten selbst verankert sein oder sich zumindest aus diesen ableiten.
3. Es muss klar sein, dass das Ganze keine Einbahnstraße ist. So wie die Firma in die Flexibilität der Mitarbeiter*innen investiert, müssten die dafür hinter der Firma und ihren Werten und Zielen stehen.
4. Die Auszeiten müssen natürlich auch genehmigt werden – und dafür braucht es klare Richtlinien, die transparent kommuniziert werden müssen.
5. Das Unternehmen muss sich von der Stechuhr in der ein oder anderen Form verabschieden. Der Fokus sollte nicht auf abgesessener Arbeit, sondern gemeinsam definierter, realistischer Leistung liegen.
Kurz gesagt: So ganz ohne Regeln geht es nicht – vor allem nicht in Deutschland, wo Arbeitszeitgesetze einen gewissen Rahmen und oft wenig Spielraum für absolute Flexibilität geben. Die Agentur elbdudler beispielsweise wirbt auch mit so etwas wie „unbegrenztem Urlaub“. Letztlich steckt dahinter aber vor allem die Idee, dass jede*r Mitarbeiter*in den eigenen Urlaubsanspruch genauso verhandelt wie beispielsweise das Gehalt.
Anreize und Vorbilder schaffen
Bleibt nur noch eine Frage: Wie bekomme ich mein Team dazu, dass sie den Urlaub auch nehmen? Bei Evernote und Buffer hat sich dafür ein finanzieller Anreiz durchgesetzt. Alle, die mindestens eine Woche (teils am Stück) Urlaub im Jahr nehmen, bekommt einen Bonus von 1000 Dollar. Klingt für uns absurd, wenn für einen einwöchigen Urlaub schon eine Bonuszahlung nötig ist, stehen vielleicht auch aktiv einfach zu viele Aufgaben auf dem Plan.
Buffer hat zudem erkannt: Es braucht Vorbilder. Erst, nachdem auch die Geschäftsführer einmal drei Wochen im Urlaub waren, haben die Mitarbeiter*innen vom unbegrenzten Urlaub Gebrauch gemacht. Netflix hat diesen Grundsatz auch in seiner Firmenkultur verankert: „Unsere Führungskräfte sorgen dafür, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen, indem sie Urlaub machen, oft mit frischen Ideen zurückkommen und den Rest des Teams ermutigen, dasselbe zu tun.“
Die Börsenberater*innen von The Motley Fool zwingen ihre Mitarbeiter sogar zu ihrem Glück: Einmal im Monat findet eine Auslosung statt. Wer gezogen wird, hat zwei Wochen Zeit, eine zweiwöchige Auszeit zu planen – und diese dann auch zu nehmen. Für das Unternehmen hat das auch einen angenehmen Nebeneffekt: Das Team kann (muss) sich selbst auf die Probe stellen, wenn ein*e Kolleg*in unerwartet ausfällt.
Für uns sind viele dieser Strategien für unbegrenzten Urlaub zwar wirksam, aber kein Zeichen von New Work - denn da gehört Vertrauen und offene Kommunikation dazu. In einer Organisation, in der also unbegrenzter Urlaub auf der Liste der Corporate Benefits stehen soll, ist es wichtig im Team zu reflektieren, ob sich verglichen wird, wie hoch der aktuelle Workload ist oder ganz transparent um Wünsche und Ansprüche bezüglich freier Zeit.