Buzzwort Agilität – Was bedeutet es und wann ergibt das Konzept Sinn?
Schluss mit dem Unverständnis darüber, was Agilität eigentlich ist. Unser Gastautor erklärt leicht verständlich, wann das New Work-Konzept Sinn ergibt und was es ist.
Daria Nepriakhina via Unsplash
Es ist wohl eines der größten Buzzwords in unserem Arbeitskontext. Ein Wort, dass täglich unüberlegt und inflationär durch die Büroräume sowie durch die virtuellen MS Teams oder Zoomcalls geschleudert wird. Jede*r behauptet es zu sein, kaum einer ist es wirklich… Es geht um den Begriff Agilität! Doch was steckt da eigentlich hinter?
Oft scheint es, dass es bei 10 Personen im Raum 11 verschiedene Interpretationen gibt, was Agilität nun bedeutet und was nicht. Häufig enden solche Diskussionen mit viel Frustration, angespannten Nerven und einer innerlichen Abneigung, die sich im ganzen Körper breit macht. Also Schluss mit dem Buzzword und dem Unverständnis.
Wenn du am Ende dieses Artikels angekommen bist, soll dir zum einen klar sein, wann Agilität wirklich Sinn ergibt und wann nicht - und zum anderen, was der Begriff überhaupt zu bedeuten hat.
Erinnerst Du dich an die Dotcom Blase?
Um die Jahrtausendwende herum kam es zum großen Internetboom. Start-ups schossen wie Pilze aus dem Boden, neue Konzepte, neue Möglichkeiten, alles schien möglich. Doch kurz nach Eintritt in das neue Jahrtausend platzte die Blase und mit ihr platzten die Träume vieler ambitionierter Internetunternehmen.
Ein Grund dafür? Die Art und Weise, wie sich diese jungen Unternehmen organisierten, passte nicht zu dem, was notwendig gewesen wäre. So kam es, wie es kommen musste und viele Start-ups beendeten ihr Abenteuer, bevor es richtig begonnen hatte.
Einige Jahre später erschien das Buch „Lean Startup“ und mit ihm eine Erklärung, wie es möglich ist, eine Business-Idee ganz agil zu validieren. Während die Start-ups also früher versucht haben, sich zu organisieren wie die Konzerne, so ist es nun anders herum.
Die Dotcomblase war nicht das einzige große kontextbezogene Event um die Jahrtausendwende. 2001 saßen 17 Softwareentwickler zusammen in einem Skiresort in Utah. Jedoch schafften sie es nicht nur auf die Piste, sondern suchten und fanden zusätzlich bessere Wege, um funktionierende Software zu entwickeln. Der Begriff Agilität, wie wir ihn heute kennen, war geboren.
Und ja, die Idee dahinter ist keine neue, es handelt sich um den altbekannten Wein in neuen Schläuchen, aber alles der Reihe nach.
Ergibt „Agiles Arbeiten“ immer Sinn?
Stell dir vor, du möchtest ein Containerschiff bauen. Um ein solch großes Projekt in die Tat umzusetzen, holst du dir im ersten Schritt eine*n Containerschiffbauexpert*in mit an Bord. Diese*r Expert*in erklärt dir, dass ein typisches Containerschiff aus circa 150.000 einzelnen Teilen besteht.
Diese 150.000 einzelnen Teile richtig zusammen zu setzen, ist kompliziert.
Warum kompliziert? Wenn du alle 150.000 Teile bei dir im Lager zur Verfügung hast sowie das notwendige Expertenwissen, so ist eine genaue Planbarkeit gegeben. Du kannst dich also an Tag A hinsetzen und einen Plan entwickeln, der dir genauestens sagt, was an Tag B, an Tag C bis hinzu Tag Z passieren wird.
Mehr noch, dank deiner*s Expert*inn weißt du zu jeder Zeit, welchen Effekt eines der Teile auf die anderen 149.999 Teile haben wird und welchen Zweck dies erfüllt. Ursache und Wirkung sind also erkennbar, wenn das notwendige Know How vorhanden ist. Es besteht damit eine Vorhersagbarkeit.
Nun stell dir vor, dass du einen Impfstoff entwickeln möchtest. Auch hier holst du dir eine*n Expert*in mit an Bord, jedoch kann diese*r dir nicht voraussagen, wie der fertige Impfstoff aussieht, da weder die Zutaten noch das Verhältnis bekannt sind.
Zu viele Unsicherheiten, zu viele Variablen, zu viel Unklarheit, um einen ausführlichen Plan zu erstellen. Das Vorhaben ist komplex!
Das bedeutet: Egal, wie viel Expertise dein*e Expert*in vorzuweisen hat, es ist unmöglich, an Tag A einen Plan zu entwickeln, der an Tag Z ein fertiges Produkt verspricht.Die einzige Möglichkeit besteht darin, einen Plan für Tag A zu erstellen und am Ende des Tages auf die Ergebnisse zu schauen, um mit Hilfe dieser Tag B zu planen. Die Lösung, um hier ans Ziel zu kommen, lautet also Trial-and-Error – Etwas ausprobieren, testen, prüfen, ob man auf dem richtigen Weg ist und den Umständen entsprechend anpassen.
In einem solchen Umfeld (komplex) ergibt agiles Arbeiten wirklich Sinn.
Vor der Einführung von agilem Arbeiten sollte dementsprechend immer zunächst geprüft werden, ob mein Projekt kompliziert oder aber komplex ist.
Tatsächlich trifft in den meisten Fällen beides zu – ein Projekt hat also häufig komplexe, aber auch komplizierte Anteile.
Was soll agil jetzt sein?
Stell dir vor, du musst von Berlin nach München reisen, aufgrund eines wichtigen Geschäftstermins. Es ist Sommer, du bist guter Dinge, setzt dich ins Auto, schaltest Google Maps ein, drehst das Radio auf, dein Lieblingslied läuft, Fenster auf, Arm raus, was soll schief gehen?
Die Antwort folgt genau in dem Moment, als du auf die Autobahn fährst. Google Maps verrät dir: 80 Kilometer Stau auf deiner Strecke.
Du hast nun zwei Optionen:
Option 1: Du fährst geradewegs in den Stau rein und befolgst deinen ursprünglichen Plan, kommst aber zu spät zu deinem Termin.
Option 2: Du nimmst die Umgehung, nimmst eine längere Strecke in Kauf, passt also deinen Plan ans Ziel an, allerdings schaffst Du es noch pünktlich zum Termin.
Keine Frage, selbstverständlich wählst du Option 2. Doch was uns hier so natürlich vorkommt, geht uns häufig im Arbeitskontext verloren. Bevor du den Plan anpasst, musst du zunächst den*die Chef*in anrufen. Bis diese*r dich dann endlich zurückruft, stehst du längst im Stau! Genau diese Herausforderung möchte Agilität lösen, die Möglichkeit im Unternehmen sich an das aktuelle Umfeld anzupassen und neu auszurichten. Es geht also darum, flexibel und darüber hinaus proaktiv zu sein.
(Hättest du die Autobahnabfahrt genommen, sobald du einen Stau vor dir gesehen hättest, so wäre es flexibel, durch die Nutzung von Google Maps warst du jedoch proaktiv)
Damit diese Anpassungsfähigkeit jedoch im Unternehmen gelingen kann, muss sich im Unternehmen vieles verändern. So muss beispielsweise dir als Autofahrer*in vor Ort das Vertrauen geschenkt werden, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst. Allein agile Rahmenwerke einzuführen, reicht hier nicht aus.
Halten wir also fest, Agilität bedeutet die Fähigkeit zu haben, sich an das Umfeld effektiv anzupassen.
Es lohnt sich allerdings auch darauf zu schauen, was Agilität nicht ist: Eine ständige Sprunghaftigkeit und Anpassung des Zieles.
An der englischen Universität Nottingham spielen die Studierenden ein Spiel, dass sich „The Great Escape“ nennt. Das Ziel des Spieles ist es, sich innerhalb von 24 Stunden so weit wie möglich wegzubewegen vom aktuellen Standort. Bedeutet im Umkehrschluss, gewonnen hat die Person, die innerhalb von 24 Stunden die größte Strecke zurückgelegt hat. Die große Herausforderung besteht darin, dass kein eigenes Geld verwendet werden darf. Kaum ein Vorhaben erfordert so viel agiles Vorgehen, also Anpassungsfähigkeit an die äußeren Umstände.
Jetzt bist du gefordert, wie würdest du „The Great Escape“ angehen?
Das Ziel? So weit wie möglich weg. Wie du das Ziel erreichst? Komplett in deiner Verantwortung.
Du könntest nach Nord, Süd, Ost und West gehen, doch instinktiv weißt du, dass sobald du dich für eine Richtung entschieden hast, es mit jedem Meter schwieriger wird, sich in genau die entgegengesetzte Richtung zu bewegen und dennoch zu gewinnen.
Learning Nr. 1: Im ersten Schritt analysierst du also im Vorfeld, wohin die Reise grob gehen könnte.
Nachdem du dich grob für eine Richtung entschieden hast, stellst du dich mit der Gitarre in die Fußgängerzone und erspielst dir 50 Euro. Voller Vorfreude bewegst du dich in Richtung Flughafen, doch auf dem Weg denkst du an deinen CO2-Fußabdruck, also Kehrtwende und auf zum Hauptbahnhof. Doch da fällt dir ein, dass ein Bahnticket zu teuer ist. Wieder Kehrtwende in Richtung Busbahnhof. Während du zwischen den drei Stationen hin und her pendelst, fällt es dir auf…
Learning Nr.2: Du solltest dich für etwas entscheiden und dies dann auch umsetzen, um im Nachgang prüfen zu können, ob die Entscheidung die richtige war.
Und gerade als das Learning Nr.2 sich festigt, fällt es dir wie Schuppen von den Augen.
Learning Nr.3: Agilität bedeutet nicht, das Ziel durchgehend zu verändern, sondern den Weg zum Ziel anzupassen. Gelingen kann das jedoch nur durch viel Ausprobieren, denn ständiges Analysieren bringt dich nicht voran.
Nachdem du nun im ersten Schritt gelernt hast, dass Agilität nicht immer Sinn ergibt (sondern nur wenn ein Projekt komplexe Anteile trägt) und im zweiten Schritt gelernt hast, dass agil bedeutet, die Fähigkeit zu besitzen, den Weg zum Ziel anzupassen, ist ja alles klar, oder? Eigentlich nicht, denn häufig reicht es nicht aus, eine Definition von agil gelernt zu haben, um diese dann auch umzusetzen.
Wichtig hierfür ist es, verinnerlicht zu haben, welche Verhaltensweisen agil sind und welche eben nicht.
Damit dies gelingen kann, muss jedoch innerhalb des eigenen Unternehmens ein Umdenken stattfinden. Statt „Buzzwordbingo“ muss ein wirkliches Auseinandersetzen mit dem Thema stattfinden. Ein möglicher erster Schritt hierzu kann es sein, mit „Storytelling“ und Geschichten zu verdeutlichen, was Agilität eigentlich ist sowie auf diese Art und Weise erklären, unter welchen Umständen echte Agilität im Unternehmen funktionieren kann.
Unsere Welt wird sich auch in den nächsten Jahren noch weiter verändern, agile Arbeitsweisen werden hier einer der Schlüssel sein für Erfolg am Markt und sind es definitiv wert, näher betrachtet und gezielt eingesetzt zu werden.
Über den Autor
Robert Lüders gibt Trainings und Workshops zum Thema Agiles Arbeiten und hilft so seinen Kund*innen dabei, durch kleine Änderungen an der Arbeitsweise die Produktivität enorm zu erhöhen. In seinen Workshops gibt er seine Tools und Scrum-Erfahrungen weiter. Vernetz dich mit ihm oder schreib eine Mail an hallo@robertlueders.de