Psychologie

„Man muss das Leben vorwärts leben, verstehen tut man es meist erst im Rückblick“

Mathias Morgenthaler hat mit über 1000 Menschen gesprochen, die „etwas Unverwechselbares tun“. Er erklärt, wieso Altruismus mit Egoismus anfängt

Interview: Vincent Halang

01.05.2018

„Man muss das Leben vorwärts leben, verstehen tut man es meist erst im Rückblick“

© Kevin Gutierrez via unsplash.com

Mathias Morgenthaler hat in den letzten Jahren mit über 1000 Menschen gesprochen, die „etwas Unverwechselbares tun“. Was man daraus für die eigene Berufung finden kann – und wieso Altruismus doch mit Egoismus anfängt.

Herr Morgenthaler, Sie haben über 1000 Gespräche mit Menschen geführt, die ihre Berufung gefunden haben. Wieso?

Es begann mit einem normalen Job: Ich sollte für eine Zeitung im Stellenanzeigen-Teil eine halbe Seite zu einem Arbeitsthema schreiben. Dabei habe ich schnell gemerkt, dass mich nicht interessiert, wie man in Vorstellungsgesprächen gut abschneidet, mehr Lohn verhandelt oder befördert wird, das gab es alles schon. Mich hat von Anfang an interessiert, wie Menschen zu ihrem persönlichen Beruf finden. Das sind nicht alles Heile-Welt-Geschichten und niemand kann sagen: „Ich habe meine Berufung gefunden und kann mich nun zurücklehnen.“ Mir geht es um Menschen, die etwas Persönliches, Unverwechselbares tun und viel Befriedigung in dem empfinden, was sie tun. Seit 20 Jahre suche ich Woche für Woche einen interessanten Menschen für ein Interview-Portrait.

Haben Sie in dieser Suche denn Ihre ganz persönliche Berufung gefunden?

Man muss das Leben vorwärts leben, verstehen tut man es meist erst im Rückblick. Ich bin zwar zufällig zu dieser Aufgabe gekommen, mache das jetzt aber seit 20 Jahren, das geht gar nicht ohne persönlichen Antrieb. Es ist jedes Mal wieder faszinierend, in neue Arbeitswelten einzutauchen, von Unternehmen, Künstlern, Handwerkern zu lernen – auch neue Dinge über mich selbst.

Von diesen über 1000 Interviews haben sie 60 in Ihrem Buch „Out of the Box“ versammelt. Wieso gerade diese 60?

Am liebsten hätte ich noch viel mehr Geschichten in das Buch gepackt! Aber irgendwann wäre es so dick geworden, dass man es nicht mehr gut lesen kann. Ich wollte dann eine gute Mischung haben: Also Geschichten, bei denen die Leute auch wirklich großen Erfolg hatten, zum Beispiel an der Spitze der Nasa-Forschungsabteilung gelandet sind, aber auch die kleinen Geschichten, bei denen die Leute sich 10 oder 20 Jahre an ihren Traumberuf herangetastet haben. Ich will nicht den Eindruck erwecken, jeder müsse sein Leben umkrempeln, um seine Berufung zu finden – viele sind schon nahe dran. Mit den 60 Interviews ist die Auswahl glaube ich groß genug, dass jeder Leser irgendwo etwas wiedererkennt und mitnimmt.

Trotzdem – das schreiben Sie schon in der Einleitung – soll das Buch ausdrücklich kein Ratgeber sein. Warum nicht?

Beim Kochen sind Ratschläge ganz gut, die befolgt man und dann gelingt das Gericht. Berufung ist aber etwas sehr Persönliches, da gibt es kein Rezept. Vielmehr spielt die eigene Biografie eine Rolle , die Familiengeschichte, wann und wie Menschen reif werden für Veränderungen, welche Verletzungen oder Sehnsüchte dominieren. Da sind wir Menschen einfach zu unterschiedlich, als dass man einen Standard für alle finden könnte. Ich will inspirieren, die Vielfalt zeigen, sodass jeder seinen ganz persönlichen Weg findet.

Aber bei der Menge an Gesprächen müssen doch zumindest Orientierungshilfen dabei sein.

Am Ende des Buches habe ich 10 Thesen formuliert, die zeigen, welche Grundhaltungen dabei helfen, der eigenen Berufung näher zu kommen. Eine besagt zum Beispiel, dass wir nicht alles mit dem Kopf und mit Analyse regeln können. Vernunft wird überschätzt, viele von uns haben das Bauchgefühl und die Intuition verloren. Die meisten haben keine Übung damit, weil wir lernen, immer nur Erwartungen zu erfüllen und die Dinge richtig zu machen. Viele der großen „Erfolgsgeschichten“ haben mit unvernünftigen Bauchentscheidungen angefangen. Manchmal muss man Dinge tun, weil es dazu einen inneren Antrieb und eine Sehnsucht gibt. Und dann finden sich Wege, wie das gut gestaltet werden kann. Wenn man sich auf die Suche nach der eigenen Berufung macht, geht es auch darum zu schauen: Wer bin ich? Und ein Gefühl dafür zu bekommen, wann geht es mir gut, wo bin ich in meinem Element, wovon will ich mehr in meinem Leben?

Welche Rolle spielt der Beruf beim Thema Berufung?

Für mich ist Berufung der übergeordnete Begriff – warum bin ich auf der Welt, was fange ich mit meiner Lebenszeit an? Bei mir könnte das beispielsweise sein, andere Menschen zu inspirieren, ihr eigenes Ding zu machen. Dann habe ich aber verschiedene Berufe, mit denen ich das mache: Ich bin Journalist, Unternehmer, Coach, Autor. Natürlich gibt es auch Leute, die einen soliden Job machen und in der Freizeit oder im Ehrenamt aufleben. Man verbringt aber sehr viel Lebenszeit im Beruf. Daher empfehle ich jedem, nach einer sinnvollen Arbeit zu suchen und so dafür zu sorgen, dass der Beruf zu einem Teil der Berufung wird.

Kann dieser Sinn auch etwas Banales wie Reichtum sein?

Viele Menschen funktionieren nach dem Schema „Tun – Haben – Sein“. Sie tun etwas, um viel zu bekommen und irgendwann jemand zu sein. Ich habe nicht viele Menschen getroffen, die auf diesem Weg Zufriedenheit erlangt haben. Wenn man sich über das Geld, den Status oder die Position definiert, kommt man nie an, weil es immer jemandem gibt, der mehr hat oder über einem steht.

Also ist Altruismus erfüllender?

Wer sich für andere engagiert, dabei aber seine eigene Persönlichkeit verbiegt oder Defizite kompensiert, fügt sich auf Dauer auch Schaden zu. Es braucht immer eine Portion Egoismus: Wenn ich das mache, was ich am liebsten und besten mache, profitiert davon auch mein Umfeld. Wer in seinem Element ist, kennt keinen Ehrgeiz, sondern nur die Ambition. Er will nicht möglichst viel für sich haben, sondern etwas in die Welt bringen.

Zum Abschluss: Wie findet man nun die eigene Berufung oder Sinn im Leben?

Man sollte sich nicht zu sehr auf diese Sinnsuche versteifen. Es ist auf Dauer anstrengend, den Sinn nur im Außen zu suchen, ohne die Verbindung zu sich selbst zu haben. Wir sollten nicht primär Vorbilder nachahmen oder grossartige Dinge tun wollen, sondern uns mit den eigenen Ressourcen beschäftigen und herausfinden, wo wir aufleben, was uns wirklich genuin interessiert. Wer so sein Kerntalent entdeckt, ist der Berufung sehr nahe und damit auch seinem Lebenssinn.

Dieser Artikel erschien zuerst im enorm Magazin.

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