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In schwindelerregender Gesellschaft: Ein Gespräch mit Thomas Beschorner

Es rumort in unserer Gesellschaft laut Thomas Beschorner, Wirtschaftsethiker der Universität St.Gallen. Wie wir die Wogen glätten können und welche Verantwortung Unternehmen haben

Lea Thin

26.11.2019

In schwindelerregender Gesellschaft: Ein Gespräch mit Thomas Beschorner

© Thomas Beschorner

Hubraum statt Future, Filterblasen und Populisten an der Spitze demokratischer Staaten – es rumort in unserer Gesellschaft, diagnostiziert Thomas Beschorner. Der Professor für Wirtschaftsethik und Autor analysiert in seinem neuen Buch „In schwindelerregender Gesellschaft“ warum unsere moderne Welt aus dem Gleichgewicht gerät. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie wir die Wogen glätten können und welche Verantwortung Unternehmen in diesen schwindelerregenden Zeiten haben. 

Herr Beschorner, Ihr Buch gründet auf der These, die Gesellschaft befände sich im Zustand des permanenten Schwindels. Was meinen Sie damit?

Ich beobachte, dass immer mehr Menschen durch eine zunehmend gespaltene Gesellschaft ein Schwindelgefühl, also ein flaues Gefühl im Magen haben. In dieser hochgradig komplexen Welt finden wir uns nicht mehr so richtig zurecht und verlieren leicht die Orientierung, weil es unglaublich viele Orientierungsangebote gibt. Die Gesellschaft, und damit auch die Arbeitswelt, befinden sich in einem permanenten Wandlungsprozess, da kann einem schon schwindelig werden. Aber der Schwindel hat noch eine zweite Bedeutung. Denn die Orientierungslosigkeit lockt Lügner und Betrüger an – Schwindler eben. Ich beziehe mich damit auf allerlei “Bullshit”, den wir zur Zeit in dieser Welt beobachten können. Es ist kein Zufall, dass wir inzwischen zig Regierungschefs auf der Welt haben, denen man ja nahezu die Zurechnungsfähigkeit absprechen möchte. Die gar nicht erst versuchen, sich an der Wahrheit zu orientieren und stattdessen mit einfachen, populistischen Geschichten aufwarten. Man braucht dafür nur die Zeitung aufzuschlagen oder durch seinen Newsfeed zu scrollen. Donald Trump zum Beispiel, das hat die Washington Post dokumentiert, hat in seinen ersten 18 Monaten nach Amtsantritt nachweislich über 10.000 mal die Unwahrheit gesagt. Aber auch hochrangige Journalist*innen und Unternehmen verbreiten heute mitunter skrupellos ihre Geschichten. Man denke an den VW-Dieselskandal oder die erfundenen Reportagen von Relotius. Das, was wir so altmodisch als Wahrheit bezeichnen würden, also zumindest der Versuch, sich auf Fakten zu stützen, kommt zunehmend aus der Mode. Stattdessen wird der Begriff “Wahrheit” immer mehr zur Verhandlungssache und zu einer Frage von Rhetorik und emotionalisierten Geschichten, die erzählt werden.

Sie schreiben dieses Ungleichgewicht der Komplexität unsere Zeit zu. Historisch betrachtet gerät die Welt aber nicht das erste Mal aus den Fugen, auch Populisten gab es schon immer. Was ist diesmal anders?

Das ist schon richtig und wir sollten uns davor hüten, jetzt in Panik vor einer vermeintlich ganz neuen Ära zu verfallen. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass die gesellschaftlichen Veränderungen jetzt nochmal Fahrt aufgenommen haben. Uns ist eine Werteorientierung verloren gegangen; wir können uns moralisch nicht mehr auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. Die zentralen Fragen, die uns in Europa beschäftigen, bergen ein hochgradiges Potenzial für handfeste Werte- und Verteilungskonflikte. Eines dieser Themen ist die Klimakrise. Technikoptimismus alleine wird nicht ausreichen, um diese Herausforderung zu meistern. Nein, wir werden über einen neuen Lebensstil und Verzicht reden müssen. Und diese Veränderungen haben letztlich mit Verteilungskämpfen zu tun. Oder nehmen wir die Flüchtlingskrise als ein weiteres bestimmendes Thema in Europa. Da kommen Menschen mit völlig unterschiedlichen kulturellen und religiösen Wert-Hintergründen in die westeuropäische Gesellschaft. Das wirft die drängende Frage auf, wie wir miteinander in einer Gesellschaft leben wollen, damit wir nicht in Parallelgesellschaften enden, die uns weiter voneinander entfernen würden.  

Wie wirkt sich dieser „schwindelerregende Zustand“ auf die heutige Arbeitswelt aus?

Da wären wir beim dritten Kernthema: der Digitalisierung. Wenn sich junge Leute heute für eine Ausbildung oder ein Studium entscheiden, können sie nicht sicher sein, dass es den Beruf in ein paar Jahren überhaupt noch geben wird. Das war in solch einem Ausmaß bislang noch nicht da. Die Beständigkeit auf dem Arbeitsmarkt, sichere Jobs, Branchen, in denen immer Leute gebraucht werden – solche Gewissheiten sind heute durch die Digitalisierung fast komplett verloren gegangen. Nehmen wir beispielsweise die Rechtswissenschaften. Wir wissen, dass Computer schon heute in der Lage sind, Fälle zu analysieren – und zwar viel präziser und schneller, als das heute Jurist*innen können. Und so sieht es in allen Branchen aus. Es werden immer mehr Arbeitsplätze wegfallen, die von Maschinen übernommen werden. Man kann also durchaus sagen, dass wir vor einem großen Umbruch, vielleicht sogar einem Bruch in der Gesellschaft stehen. Die Arbeit wird uns nicht verloren gehen, wie manche meinen, denn es werden neue Tätigkeitsfelder entstehen. Doch der Übergang hin zu einer digitalen Gesellschaft kann für Teile der Beschäftigten schmerzhaft werden, weil Arbeits- und Lebensbiographien brechen können.

Umso wichtiger ist es nun, darauf zu achten, dass unsere Gesellschaft noch den nötigen Zusammenhalt hat und wir uns nicht in verschiedene gesellschaftliche Gruppen aufspalten. Wir erleben das heute ja schon in den sozialen Medien, wo durch unsere Filterblase Parallelgesellschaften entstehen. Das ist für eine Gesellschaft sehr gefährlich.

Was wären denn aus Ihrer Sicht Jobs mit Zukunft?

Aus meiner Sicht werden das vor allem Tätigkeitsfelder aus den sozialen und pädagogischen Bereichen sein. Da wird es Grenzen für die Digitalisierung geben. Es gibt zwar auch heute schon Pflegeroboter, aber diese werden niemals einen Menschen ersetzen können, der soziale Wärme ausstrahlt und ein offenes Ohr für seine Patient*innen hat. Auch in den Bereichen Kreativität und Innovation stoßen digitale Lösungen an ihre Grenzen. Denn letztlich handelt es sich bei solchen Maschinen um lernende Roboter, die Algorithmen abarbeiten und nicht wirklich mit eigenen Ideen aufwarten. Diese Bereiche erscheinen mir relativ sicher. Aber das sage ich im Jahr 2019, vielleicht sehe ich das in fünf oder zehn Jahren ganz anders. Das Ausmaß des technischen Fortschritts und die daraus resultierenden Folgen kennt momentan niemand. 

Sie sprechen sich ganz klar für Verzicht aus. Nun lebt die Wirtschaft ja im Grunde von Konsum. Was können Unternehmen tun, um wieder Stabilität und Vertrauen in dieser Gesellschaft herzustellen ohne die Welt zeitgleich weiter zu zerstören?

Die Sinn-Frage muss auch in der Wirtschaft ankommen. Unternehmen sollten sich verstärkt darüber Gedanken machen, welchen Zweck ihre Dienstleistung und ihre Produkte für die Gesellschaft erfüllen. Die Frage nach dem sogenannten “Purpose” wird zentral sein, und dieser ist eben nicht Gewinnmaximierung. Statt auf einzelne Produkte zu schauen, sollten Unternehmen für sich die Frage beantworten, welche gesellschaftlichen Bedürfnisse sie befriedigen wollen. Ein Beispiel hierzu: Ich habe vor einigen Jahren mit Managern von Daimler über Werte und Verantwortung diskutiert. Als ich die Teilnehmenden am Anfang gefragt habe, was sie denn eigentlich bei Daimler machen, war die Verwirrung erst einmal groß. “Wir sind Autohersteller, wissen Sie doch.” Wir haben während des Gesprächs dann den Blick vom Produkt weggerichtet und kamen am Ende zu dem Ergebnis: Nein, Daimler und Co sind keine Autohersteller, das sind Mobilitätsanbieter. Es geht diesen Unternehmen darum, ein menschliches Bedürfnis zu befriedigen, vereinfacht gesagt von A nach B zu kommen. Anstatt sich also nur auf das Produkt „Auto“ zu beschränken, eröffnet der Blick auf den Purpose dem Unternehmen künftig viel mehr Möglichkeiten und Spielraum, den Wunsch nach Mobilität auch auf nachhaltige Weise zu befriedigen. Zum Beispiel über Car Sharing Konzepte. Die Frage nach dem Sinn ist demnach aus meiner Sicht die Basis für eine vernünftige und auch nachhaltige Unternehmenspolitik. 

Haben Sie zum Abschluss noch einen Tipp für unsere Leser*innen, wie sie es in dieser Welt schaffen, nicht die eigene Balance zu verlieren?

Ich fürchte, wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir in einer unglaublich komplexen Welt leben, in der morgen die Dinge schon wieder ganz anders sein können, als sie es heute sind. Auch wenn es anstrengend ist, wir werden uns immer wieder an neue Situationen und neue Kontexte anpassen müssen – in der Arbeits- wie in der Lebenswelt. Um hier Schritt halten zu können, sollte man ganz individuelle Strategien entwickeln, offen sein für Neues und die Augen aufhalten, um schnell mitzubekommen, wenn sich Veränderungen abzeichnen. Wer nur an Gewohntem festhält läuft Gefahr, überrumpelt zu werden. Gerade in der heutigen Zeit ist es daher wichtig, sich ständig weiterzubilden, um den Anschluss nicht zu verlieren. Die gute Nachricht ist: Man kann lernen ein flexibler Mensch und ein flexibler Arbeitnehmer zu sein. Allerdings sollte man bei all der Flexibilität dennoch eine standhafte Moral haben. Im Job wie im Privatleben sollte man sich immer wieder fragen, ob das eigene Verhalten gut und richtig ist. Wenn Sie heute Abend nach Hause kommen und Ihrer besseren Hälfte und vielleicht Ihren Kindern beim Abendessen von Ihrem Tag erzählen, können Sie alle Ihre heute getroffenen Entscheidungen guten Gewissens rechtfertigen? Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ist gerade heute, wo Demagogen viel zu viel Gehör finden, eine Tugend, die wir alle aktiv bewahren sollten. 
 

Thomas BeschornerThomas Beschorner ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen. In seinem neuen Buch “In schwindelerregender Gesellschaft. Gleichgewichtsstörungen der modernen Welt”, das im Murmann Verlag erschienen ist, beschreibt er die ökonomischen, gesellschaftlichen und ethischen Herausforderungen unserer Zeit.