Karriere

Held*innen der Corona Krise – “Wir können die Familien nicht alleine lassen”

Held*innen der Coronakrise erzählen, wie Corona ihren Arbeitsalltag verändert. Heute mit Anna Kruse, Sozialpädagogin in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie

Lina Kruse

08.04.2020

Held*innen der Corona Krise – “Wir können die Familien nicht alleine lassen”

© Evgeni Tcherkasski via Unsplash

In Krisenzeiten wird uns vieles bewusst, was wir sonst als selbstverständlich hingenommen haben. So ist es momentan auch in der Arbeitswelt: Menschen in systemrelevanten Berufen erleben eine Welle der Dankbarkeit wie nie zuvor. Während viele von uns sicher vor dem Virus im Home Office sitzen, gehen diese Menschen täglich zur Arbeit und sorgen dafür, dass unser System nicht einbricht. Sie pflegen die Kranken, kümmern sich um unsere Sicherheit, Mobilität und unsere Lebensmittel oder kämpfen “an vorderster Front” gegen COVID-19 an: Krankenpfleger*innen, Kassierer*innen, Polizist*innen und viele mehr.

Wir lassen sie in dieser Reihe zu Wort kommen und wollen ihnen damit mehr als nur unseren Dank schenken: Aufmerksamkeit und damit den Aufruf an die Politik und die Gesellschaft diese Menschen auch nach der Krise nicht zu vergessen und ihnen nachhaltige Wertschätzung, zum Beispiel in Form einer angemessene Bezahlung zu garantieren! 

Liebe Anna, wie genau lässt sich dein Job beschreiben? Was sind deine konkreten Verantwortungsbereiche, Aufgaben und Herausforderungen?

Ich bin seit ungefähr vier Jahren Sozialpädagogin in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin tätig. Ich arbeite hauptsächlich mit und für psychisch kranke Jugendliche im Alter von 14-18 Jahren, die vollstationär bei uns aufgenommen wurden, weil ambulante Hilfen nicht mehr ausreichen. Der häufigste Aufnahmegrund sind Suizidgedanken und das Gefühl, sich nicht mehr davon distanzieren zu können. Im Verlauf der Behandlung kümmere ich mich mit den Eltern und Jugendlichen um die Perspektivplanung und nehme meistens Kontakt mit den Jugendämtern auf. Kann es überhaupt nach der Behandlung wieder nach Hause gehen? Was benötige ich neben Therapie noch, um mich weiterhin gut zu entwickeln? Was kann ich überhaupt einmal werden? Gibt es besondere Angebote für meine Erkrankung? Benötigt die gesamte Familie eine Hilfe?
Viele Fragen, viele Ansprechpartner*innen, viele Angebote und viele Widerstände, da sich meistens nie alle einig sind.
Außerdem biete ich als Fachtherapeutin noch Gruppentherapien an, bei denen die Jugendlichen die Chance bekommen sich in der Gruppe zu erfahren und ihre Empfindungen frei auszudrücken.

Was erfüllt dich daran?

Mich erfüllt, zu sehen, wenn sich junge Menschen, mithilfe der Behandlung, für ein selbstbestimmtes Leben entscheiden können und erfahren, dass sie mit ausreichender Unterstützung wieder Freude und Zuversicht empfinden. 
Die therapeutische Arbeit in einem so großen und multiprofessionellen Team ist eine riesige Herausforderung, die sich lohnt, da wir viele Welten retten.

Warum gehst du momentan noch jeden Tag zur Arbeit? Warum kannst du nicht zuhause bleiben?

Die Kinder und Jugendlichen können oft nicht nach Hause, auch nicht nach der Behandlung. Es gibt viele Belastungsfaktoren, die im elterlichen Haushalt nicht auszuhalten wären: Häusliche Gewalt, psychisch erkrankte Eltern, zu beengte Wohnverhältnisse, sexuelle Übergriffe sind nur einige dieser Belastungen. Einige benötigen dringend eine therapeutische Wohngruppe im Anschluss der Behandlung, aber die Jugendämter sind hochbelastet und können oftmals bei den vielen Fallzahlen nicht reagieren. Meine Rolle ist sehr wichtig, da die Familien ohne meine Unterstützung oft im Nebel stehen.

Wie sieht dein Arbeitsalltag momentan aus? Was ist anders als vor Corona?

Nicht viel, wir versuchen den Kindern und Jugendlichen so “normal” wie nur möglich einen strukturierten Alltag zu bieten. Da jedoch unsere hausinterne Klinikschule entfällt, ist das gruppentherapeutische Angebot besonders wichtig. 
Besucher*innen sind auf dem Gelände der Klinik aktuell nicht erlaubt, das heißt, auch wichtige Helferkonferenzen mit den Jugendämtern sind nicht mehr möglich. Ich muss viel mehr über schriftliche und telefonische Absprachen klären. Es ist alles etwas umständlicher, aber die Helfersysteme untereinander zeigen viel Verständnis und es werden kreative Ideen zur Umsetzung einer Hilfe entwickelt, die vor der Krise nicht vorstellbar waren. 

Wie schützt du dich vor Corona?

In der Klinik tragen alle Kolleg*innen einen Mundschutz. Die Kinder und Jugendliche werden sensibilisiert und tragen selbstgenähte, farbenfrohe Masken. Bei Verdacht einer Erkrankung, werden wir sofort auf Corona getestet. Außerdem steht momentan Hygiene an erster Stelle: Desinfizieren, Händewaschen und Abstand halten – das Mindeste, was wir tun können. 

Wie empfindest du die große Dankbarkeit, die dir jetzt entgegen gebracht wird? 

Davon merke ich nicht viel. Ich denke psychische Erkrankungen sind immer noch ein großes Tabuthema und man denkt aktuell erstmal an die Held*innen, die direkt mit Corona in Kontakt kommen. 
Die Welle rollt noch auf uns zu denn die psychischen Folgen der aktuellen Zeit sollte man nicht unterschätzen!

Welche konkreten Schritte wünscht du dir von politischer Seite in Bezug auf deine Branche oder deinen Beruf? Was wünscht du dir von der Gesellschaft?

Psychische Erkrankungen können im schlimmsten Fall tödlich enden und benötigen unbedingt mehr Aufmerksamkeit in Politik und Gesellschaft. Es ist kein Thema mit der sich die Politik gerne auseinandersetzt, denn wer wirbt schon Wähler*innen mit dem Blick auf so ein unangenehmes Thema. Aber das Leid von Kindern und Jugendlichen aufgrund von überforderten Eltern kann massiv in die Entwicklung dieser greifen! Wir können die Familien nicht alleine lassen.

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    Corona