Nachhaltigkeit

Einen Wald um 90 Grad drehen? Alina Schick erklärt, wie das geht

Wer kommt schon auf die Idee, einen Wald um 90 Grad zu drehen und auf Wände und Fassaden von Gebäuden zu packen? Alina Schick. Warum, Wieso, Weshalb, erklärt sie im Interview.

Interview: Vincent Halang

09.05.2018

Wer kommt schon auf die Idee, einen Wald um 90 Grad zu drehen und auf Wände und Fassaden von Gebäuden zu packen? Alina Schick. Sie und ihr Team vom Start-up Visioverdis haben den GraviPlant entwickelt, mit dem Bäume horizontal aus Wänden wachsen können. Warum und welchen Nutzen das hat, erklärt die Unternehmerin im Interview.

Frau Schick, wie kommt man auf die Idee, Bäume horizontal aus Wänden heraus wachsen zu lassen?

Ich habe Gravitationsbiologie in Bonn studiert, mit dem Schwerpunkt, wie Pflanzen Schwerkraft wahrnehmen. Dadurch bin ich auf den Klinostat aufmerksam geworden, eine inzwischen schon 150 Jahre alte Erfindung von Julius von Sachs. Er hat sich einfach eine Sonnenblume genommen, diese mit einem Uhrwerk verbunden und so in horizontaler Position drehen lassen.

Und warum funktioniert das? Mann kennt es ja aus sturmreichen Gebieten, dass Bäume schief wachsen – aber doch immer irgendwie nach oben.

Pflanzen haben in den Wurzel- und Sprossspitzen spezielle Zellen, in denen sich sogenannte Schwerekörnchen befinden. Diese sinken mit der Schwerkraft nach unten und drücken auf die untere Zellwand. Das ist das Signal für die gesamte Pflanze, wo oben und unten ist. Drehen wir sie nun, rollen diese Schwerekörnchen – bildlich gesprochen – an der Zellwand entlang. Sie bekommt also das Gefühl, die Schwerkraft würde gleichmäßig von allen Seiten auf sie einwirken. Dadurch wächst der Baum waagerecht aus der Wand in die Horizontale.

Was macht das mit der Pflanze?

Einiges. Wir haben zum einen mehr Laub an den Bäumen, da sie gleichmäßig von allen Seiten beleuchtet werden, das Wachstum ist dadurch gleichmäßiger. Das Streckenwachstum fällt geringer aus, der Baum wird also nicht so lang wie normalerweise. Für die Fassadenbegrünung ist das aber sogar von Vorteil, da die Hebelwirkung nicht so groß ausfällt.

Stand für Sie von vornherein fest, dass Sie aus diesem System ein Unternehmen machen wollen?

Nicht wirklich. Zusammen mit einem befreundeten Wissenschaftler habe ich das System des Klinostat auf kleine Bäume übertragen und 2009 den ersten Vorläufer zum GraviPlant gebaut – damals noch aus einer Waschmaschinen-Trommel. Wir haben mit Kirsch-, Apfel- und Pflaumenbäumen experimentiert und wollten das Verfahren in der Fassadenbegrünung praktisch zum Einsatz bringen. Daraufhin ist das Unternehmen Visioverdis entstanden und wir haben den Klinostat sozusagen zum GraviPlant weiterentwickelt.

Inwiefern?

Anders als von Sachs‘ 150 Jahre altes Gerät ist der GraviPlant mit modernen Sensoren ausgestattet, damit er so etwas wie Feuchtigkeit oder Temperatur automatisch erfasst und man ihn komplett über den Computer steuern kann. Zudem arbeiten wir gerade daran, die Bäumchen mit Regenwasser zu versorgen und uns über Solarmodule von der Haustechnik abzukapseln.

Kann man das mit jeder Pflanze und jedem Baum machen?

Man kann nicht jede Pflanze drehen. Ich habe für Tests nicht nur Bäume, sondern auch Zierpflanzen gedreht, insgesamt über 20 verschiedene Arten. Die erste, bei der es nicht funktioniert hat, war ein klassischer Weihnachtsstern, der hat alle Blätter verloren. Es gibt also solche, die das nicht so gerne haben und andere, denen das gut tut und die ganz tolle Blüten und Früchte tragen. Andere, wie Palmen mit großen Blättern, sind zudem einfach unpraktisch. Wir setzen bisher auf Liguster-Bäumchen, da die recht anspruchslos sind und zum Beispiel bei Frost keinen großen Schaden nehmen. Als nächstes drehen wir Tanne und Olivenbaum.

Trotzdem stellt sich die Frage: Muss das sein? Muss man Bäume aus Wänden wachsen lassen?

Es muss sicherlich nicht – aber das müssen viele andere Sachen auch nicht. Wir wollen mit dieser Verbindung aus Technik und Natur dazu beitragen, den Lebensraum der Zukunft grüner zu gestalten. Und der liegt nun einmal in den Groß- und Megastädten. Dort sind horizontale Flächen teuer und werden zum Wohnen gebraucht.

Aber gibt es im Vertical Gardening nicht andere Pflanzen, die als Luftfilter oder CO2-Speicher deutlich effizienter und nachhaltiger arbeiten als ein kleiner Baum?

Zunächst einmal sehen wir die Einsatzgebiete für den GraviPlant in Deutschland eher in der Eventgestaltung. „Vertical Gardening“ klingt immer noch so danach, als würde man da aktiv dran teilhaben. Gute Frage, wie wir das nennen. Ich würde mir ja irgendwann einen „Vertical Forest“ wünschen, einen vertikalen Wald. Wir sind natürlich auch immer auf der Suche nach Zahlen, wie viel CO2 gebunden, wie viel Sauerstoff abgegeben oder Luft mit solchen Projekten gefiltert wird. Da gibt es derzeit viele Behauptungen, aber wenig Konkretes. Da braucht es in den nächsten Jahren noch intensive Forschung, welche Pflanzen sich für Fassadenbegrünung wirklich eignen. Dass Vertical Gardening einen positiven Beitrag zu sauberer und kühlerer Luft beiträgt, sollte aber jedem klar sein. Jede Pflanze, die wir in einer Stadt unterbringen können, ist ein Plus für diese Stadt. Grüne Städte sind einfach lebenswerter als Betonwüsten.

Dennoch verbraucht der GraviPlant mit seinem Topf einiges an Platz – und wegen der Elektronik auch an Ressourcen. Würden andere Pflanzen den gleichen Platz nicht sinnvoller ausfüllen?

Ein Beispiel: Läuft man im Sommer über eine Betonfläche, ist das ziemlich heiß. Geht man über eine Wiese, ist das schon kühler. Wirklich angenehm wird es aber erst in einem Wald, der mindestens aus Kraut-, Strauch und Baumschicht besteht. Dieses natürliche System zur Senkung von Temperaturen wollen wir auch auf Fassaden mit einer Zwei-Schicht-Begrünung zumindest ansatzweise nachbilden. Dadurch, dass der GraviPlant sich dreht und in seiner „Sphäre“ bleibt, kommt außerdem genügend Licht durch, sodass man die Wand dahinter auf herkömmliche Art und Weise bepflanzen kann – teilweise sogar mit völlig neuen, bisher für die Fassadenbegrünung eher nicht verwendeten Pflanzen, die im Schatten der Bäume wachsen können. Hinzu kommt: Wenn wir mit Städteplanern sprechen, ist für viele Verkehrslärm ein wichtiges Thema. Mit Objekten wie den GraviPlant-Bäumchen können wir den Schall schon vor der Fassade brechen. Das gesamte System ist derzeit noch ein Pilot. Mittelfristig wollen wir den Topf deutlich leichter und kleiner machen. Die Vorteile, die die zweite Schicht Begrünung an Fassaden mit sich bringt, machen den etwas höheren Aufwand deutlich wett. Der GraviPlant ist ja nicht unser einziges Produkt. Wir entwickeln ja auch Gesamtkonzepte für Fassadenbegrünung und treten als Berater im Bereich der kundenspezifischen Begrünung auf

Mit all diesen positiven Aspekten: Wieso sehen wir nicht mehr grüne Fassaden und Wände in unseren Städten?

Das kommt ganz darauf an, wohin man schaut. In Deutschland mag das sicherlich der Fall sein, international, gerade in stark verschmutzten Städten in Asien oder auch Südamerika, tut sich im Bereich Vertical Gardening dagegen einiges. Einer von vielen Gründen, der Fassadenbegrünung in Deutschland noch hemmt, ist das Klima. Im Herbst und Winter werden die meisten Pflanzen einfach braun und grau und sehen nicht mehr schön aus. Außerdem haben wir hierzulande noch vergleichsweise grüne Städte und genügend Platz in der horizontalen Fläche. Es ist ein Markt, der am Anfang ist, in den nächsten Jahren aber gerade durch das internationale Umfeld deutlich wachsen wird, da bin ich mir sicher.

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